Festhalten am Flickenteppich

Verfassungsgericht verhandelt umstrittene Gemeindereform in Sachsen-Anhalt

  • Hendrik Lasch, Magdeburg
  • Lesedauer: 3 Min.
In Sachsen-Anhalt soll die Zahl der Gemeinden drastisch reduziert werden – notfalls mit Zwang. Rund ein Sechstel der betroffenen Orte klagt dagegen beim Verfassungsgericht, das gestern die Argumente anhörte.

Winfried Schubert hat gestern früh das Horoskop gelesen. »Bevor sie geplante Schritte unternehmen«, zitiert der Präsident des Verfassungsgerichtes Sachsen-Anhalt einen Rat für das Sternbild Wassermann, »prüfen sie lieber noch einmal die Standpunkte anderer«. Schubert zitiert die Sentenz zum Auftakt der Verhandlung über die Gemeindereform in Sachsen-Anhalt. Die anwesenden Bürgermeister kleiner Gemeinden im Saal nicken beifällig: Dass die Landesregierung ihre Meinungen nicht angehört habe, ist ein Grund, der viele von ihnen zur Klage trieb.

Insgesamt 178 Gemeinden zogen gegen die im Januar 2008 nach jahrelangem Tauziehen beschlossene Reform vor Gericht – somit also jede sechste im Land. Insgesamt gibt es in Sachsen-Anhalt einen wahren Flickenteppich von 1033 Städten und Gemeinden – mehr als in anderen Bundesländern und auch mehr, als sich das Land leisten kann, sagt die Regierung. Die Leistungsfähigkeit der Kommunen sei »wegen der außerordentlichen Kleinteiligkeit nicht gegeben«, sagt SPD-Innenminister Holger Hövelmann. 40 Prozent der Orte haben weniger als 500 Einwohner: »Viele können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen.« In den Einheitsgemeinden, die noch bis Ende Juni freiwillig, danach bis 2011 auch per Zwang gebildet werden können, sollen jeweils mindestens 10 000 Menschen leben.

Die Vergrößerung indes wird gravierende Folgen für die Demokratie haben, wenden die Kläger ein. »Über 8000 ehrenamtliche Gemeinderäte werden abgeschafft«, klagt Ralf Wunschinski, CDU-Bürgermeister von Angersdorf im Saalekreis, der eine erfolgreiche Volksinitiative gegen die Reform gründete. In der Altmark entstünden Gebilde, die »größer sind als der Stadtstaat Bremen«, sagt der Lokalpolitiker. Er fürchtet, dass immer weniger Menschen die großen Entfernungen bewältigen können oder wollen, um etwa an Sitzungen der Gemeinderäte teilzunehmen: »Sie schließen Bürger vom demokratischen Leben in der Kommune aus«.

Diese Frage indes ist heftig umstritten. Martin Schulte, Prozessvertreter vieler klagender Gemeinden, wirft der Landesregierung vor, die Effizienz stärken zu wollen, damit aber die bürgerschaftliche Selbstverwaltung stark zu beschneiden. Hövelmann erwidert unter Verweis auf zurückgehende Finanzmittel, wenn »nichts zu entscheiden ist, nützt die theoretische Möglichkeit der Mitgestaltung nichts«. Wulf Gallert, Chef der Linksfraktion, verwies am Rande der Verhandlung zudem auf Demokratiedefizite der jetzigen Strukturen: So müssen Eltern ihre Kinder oft auf Grundschulen schicken, die außerhalb der eigenen Gemeinde liegen, weshalb sie über deren Entwicklung nicht mitbestimmen können.

Welche Argumente die sieben Richter überzeugt haben, wird sich am 21. April zeigen, wenn das Urteil bekannt gegeben wird. Dann wird auch über eine Klage der FDP-Fraktion entschieden, die moniert hatte, ihre Rechte als Opposition seien beschnitten worden. Die Aussichten des Vorstoßes beurteilte selbst Fraktionschef Veit Wolpert nach der Verhandlung skeptisch. Die zweite Oppositionsfraktion drückt derweil auch den Bürgermeistern nicht unbedingt die Daumen: Trotz aller inhaltlichen Bedenken könne man »nicht wollen, dass die Reform kippt«, sagt Gallert unter Verweis auf die jahrelange zermürbende Debatte und warnt vor den Folgen für das ohnehin geringe Vertrauen in die Landespolitik: »Dann schicken uns die Leute nach Hause.«

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