Der Zauber des Banalen

Britischer Psychologe blickt hinter die Kulissen unseres Alltagsverhaltens

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

In Deutschland gilt noch immer das Wort, dass die Wissenschaft eine viel zu ernste Sache sei, um sie gelegentlich mit Humor zu nehmen. Das ist in den angelsächsischen Ländern anders. Hier gibt es nicht wenige Forscher, für die Wissenschaft alles sein darf, nur nicht langweilig und trocken. Folglich hat man hier auch weniger Hemmungen, Experimente durchzuführen, die auf den ersten Blick belanglos erscheinen. Denn sie dienen nicht der Beantwortung grundlegender Seinsfragen, sondern führen uns zum Beispiel vor Augen, wie merkwürdig sich Menschen im Alltag verhalten.

Der britische Psychologe Richard Wiseman hat dieser Forschungsrichtung sogar einen Namen gegeben: »Quirkologie« (von engl. »quirky« für verschroben, skurril). Moment, mögen manche jetzt vielleicht denken, das Ganze ist doch sicher ein verspäteter Aprilscherz. Weit gefehlt. Zwar klingt der Name Quirkologie in der Tat recht seltsam. Doch die Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung unseres Alltagsverhaltens beschäftigen, gehen wohlweislich seriös zu Werke und bringen Methoden zum Einsatz, die auch ansonsten in der experimentellen Psychologie Anwendung finden. Allein die Fragen, die sie damit zu beantworten versuchen, sind ungewöhnlich. Etwa: Wie beeinflusst der Vorname eines Menschen dessen Berufschancen? Oder: Warum sind Sportler, die im September geboren werden, besonders erfolgreich?

Dass die meisten Untersuchungen dieser Art in wenig bekannten Fachzeitschriften begraben liegen, bedauert Wiseman. Denn die darin behandelten Themen hätten oft einen verblüffenden Bezug zur Wirklichkeit. Stichwort Finanzspekulation. Um hier erfolgreich zu sein, schrieb unlängst der US-Investmentbanker und Milliardär George Soros, bedürfe es ausgeklügelter Strategien. Wiseman und seine Kollegen machten die Probe aufs Exempel. In einem Experiment übergaben sie drei Personen, einem Börsenanalysten, einer Finanzastrologin und einem vierjährigen Mädchen, fiktive 5000 Pfund, die es möglichst gewinnbringend auf dem Aktienmarkt anzulegen galt. Während die Astrologin sogleich das »Geburtshoroskop« zahlreicher Firmen erstellte und der Analyst auf seine langjährige Berufserfahrung vertraute, ermittelte das Mädchen die für eine Investition vorgesehenen Unternehmen per Losentscheid. Nach einer Woche hatten alle Geld verloren: die Finanzastrologin 10,1 Prozent, der Börsenanalyst 7,1 Prozent und das Mädchen – 4,6 Prozent. Auch als das Experiment auf ein ganzes Jahr ausgedehnt wurde, lag die Kleine vorn. Am schlechtesten schnitt diesmal der Finanzprofi ab: Er fuhr einen Verlust von 46,2 Prozent ein, obwohl er von den Dreien angeblich über das größte Expertenwissen verfügte.

Überhaupt halten sich die meisten Menschen für rational entscheidende Wesen. Doch stimmt dieses Selbstbild mit der Realität überein? Angenommen, Sie möchten einen Taschenrechner kaufen. Im Geschäft zeigt man Ihnen ein Modell für 50 Euro. Dann jedoch erklärt der Verkäufer, dass das gleiche Modell am nächsten Tag in einem Sonderangebot für 10 Euro zu haben sei. Was würden Sie tun? Im Experiment jedenfalls entschieden sich über 70 Prozent der Probanden, den Rechner erst am nächsten Tag zu kaufen. In einem zweiten Versuch waren die Probanden auf der Suche nach einem neuen Computer, der sofort 1499 Euro, am nächsten Tag im Sonderangebot aber nur 1459 Euro kosten sollte. Diesmal nahmen die meisten den Computer gleich mit, weil sie die Ersparnis bezogen auf den ursprünglichen Preis für zu gering hielten und somit darauf verzichteten, wie im ersten Fall 40 Euro zu sparen. Ist das wirklich rational?

Des Weiteren glauben viele Menschen, sie könnten relativ rasch herausfinden, ob jemand lügt oder die Wahrheit spricht. Um zu ergründen, ob das wirklich so ist, führte der amerikanische Psychologe Paul Ekman zahlreiche Experimente durch. Das ernüchternde Ergebnis: Kaum jemand konnte zuverlässig angeben, ob ein anderer log. Denn alle Versuchsteilnehmer gingen davon aus, dass Lügner den Blick abwenden, nervöse Handbewegungen machen oder auf ihrem Sitz herumrutschen. Nur leider sind solche Verhaltensweisen, wie man inzwischen weiß, nicht an Unehrlichkeit gekoppelt, sondern treten auch bei Menschen auf, die nicht lügen. Auf welche Weise lassen sich Lüge und Wahrheit dann voneinander unterscheiden? Durch die Sprache, meint Wiseman, der darauf kam, als ein britischer Journalist einmal in wahren und ein andermal in unwahren Worten über denselben Film sprach. Dabei entstand folgende Hypothese: Lügner gehen aus Angst vor dem Vergessen weniger ins Detail. Außerdem sind sie bestrebt, sich innerlich von ihren falschen Aussagen zu distanzieren. Daher verwenden sie seltener das Wort »ich« und reden kaum über ihre eigenen Gefühle. Um seine Hypothese zu testen, forderte Wiseman Tausende von Radiohörern auf, die beiden Äußerungen des genannten Journalisten nach diesen Kriterien zu bewerten. Tatsächlich konnten nun 73 Prozent der Hörer die Wahrheit von der Lüge scheiden. Ansonsten schaffen dies, wie beim Raten üblich, nur etwa 50 Prozent.

Eines fragte sich schon der griechische Philosoph Platon: Warum erzählen Menschen so gern Witze? Seine Antwort: Weil das Lachen über Witze in uns ein Gefühl der Überlegenheit hervorruft. Ob diese Theorie zutrifft, haben Forscher erst in den letzten Jahren in verschiedenen Experimenten nachgeprüft. Dabei wurde offenbar, dass Männer erheblich mehr Witze über Frauen machen als umgekehrt. Für Wiseman ist das keine Überraschung, denn Männer bekleiden im Beruf oft eine höhere Position als Frauen und fühlen sich diesen überlegen. Anders liegen die Verhältnisse beim Selbsthumor. Will sagen, Männer haben in der Regel größere Schwierigkeiten, über sich selbst zu lachen. Das ergab unter anderem ein Vergleich von Drehbüchern weiblicher und männlicher Komiker: Frauen nahmen sich darin viermal häufiger als Männer selbst auf die Schippe.

Ob Witze, die an das Überlegenheitsgefühl appellieren, zugleich das Selbstbild der Getroffenen beschädigen, wollten Bremer Forscher herausfinden. Sie baten deshalb einige Dutzend Frauen, Witze über dümmliche Blondinen vorzulesen. Andere Frauen gaben stattdessen »neutrale« Witze zum Besten. Vor und nach dem Versuch führten die Forscher mit allen Frauen einen IQ-Test durch, der wie erwartet keine größeren Veränderungen erbrachte. Mit einer Ausnahme: Bei blonden Frauen, die zuvor Abwertendes über Blondinen vorgetragen hatten, sank der IQ deutlich ab. Wisemans Kommentar: »Witze schaffen eine Welt, in der Klischees Wirklichkeit werden.«

Wer nun neugierig geworden ist oder sich generell für die Psychologie des Alltags interessiert, dem sei Wisemans Buch zu diesem Thema ausdrücklich empfohlen. Denn darin finden sich viele faszinierende Forschungsergebnisse, die man nach der Lektüre auch seinen Freunden und Bekannten mitteilen möchte, schrieb das US-Wissenschaftsmagazin »Scientific American« in einer Rezension. Ich kann dies aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

Richard Wiseman: Quirkologie. Die wissenschaftliche Erforschung unseres Alltags. Fischer Taschenbuch Verlag. 304 S., 8,95 EUR.

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