Die Schläge und der Hunger im KZ

Ehemalige Häftlinge erinnern sich an Sachsenhausen / Multimedia-Archiv freigeschaltet

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Ob er sich die Scheibe Brot einteilte oder sie auf einmal aß – er blieb hungrig. Die ekelhafte Suppe, die den KZ-Häftlingen im Außenlager Haselhorst gereicht wurde, brachte Zvi Steinitz nicht herunter. Gestern erzählte der aus Tel Aviv angereiste Überlebende in der Gedenkstätte Sachsenhausen von seiner Zeit in Berlin-Haselhorst, wo er für Siemens schuften sollte. Im April 1945 kam Steinitz kurz ins Stammlager. Die SS trieb ihn von dort auf den Todesmarsch.

Seit Mittwoch sind die Erinnerungen von etlichen Zeitzeugen am Rechner abrufbar. Die Computer stehen in den zwei Lernzentren in der ehemaligen Häftlingsküche und im einstigen Krankenrevier auf dem Gedenkstättengelände. Die Filminterviews sind in den Jahren 2002 bis 2008 aufgezeichnet worden. Die Zeitzeugen stammen aus verschiedenen Ländern. Der polnische Jude Steinitz zum Beispiel befand sich im Ghetto und im KZ Auschwitz, bevor er nach Haselhorst gebracht wurde.

»Die erste Maßnahme war 25 Schläge auf den Rücken«, erzählt Karel Hybek von der Ankunft in Sachsenhausen. Der damals 20- Jährige hatte Maschinenbau an der Technischen Hochschule in Prag studiert. Als am tschechoslowakischen Nationalfeiertag 1939 bei Auseinandersetzungen mit der deutschen Polizei ein Medizinstudent tödlich verwundet wurde, organisierten Kommilitonen aus Hybeks Wohnheim eine Trauerfeier für das Opfer. Die Gestapo ließ 1200 Studenten verhaften und die angeblichen Rädelsführer erschießen. Hybek kam erst 1942 wieder frei.

Karl Stenzel berichtet, wie sich SS-Männer Häftlinge zum Verprügeln aussuchten. Wer sehr klein oder sehr groß war oder eine Brille mit Goldrand trug, der fiel auf. Wenn er von den Schlägen blaue Flecke bekam, fiel er am nächsten Tag deswegen auf und musste eventuell wieder Prügel einstecken. »So konnte es passieren, dass man innerhalb weniger Tage totgeschlagen war.« Der Schlosserlehrling Stenzel hatte sich schon früh im kommunistischen Jugendverband engagiert. Nach der Machtübernahme der Faschisten machte er illegal weiter, wurde mehrfach festgenommen und in Konzentrationslager gesteckt, im November 1941 ins KZ Sachsenhausen. 1945 befreite ihn die Rote Armee im Außenlager Falkensee. Er arbeitete dann für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und als Diplomat in China.

Der nahe Ostrava geborene Artur Radvansky wurde im August 1939 verhaftet. Er und sein Vater hatten deutschen Emigranten geholfen, ins damals noch nicht besetzte Polen zu fliehen. In Sachsenhausen beteiligte sich Radvansky im Oktober 1942 an einer Rebellion. Gemeinsam mit 17 anderen jungen Juden lief er auf den Appellplatz und attackierte SS-Leute. »Wir wollten nicht sterben wie Schafe«, sagt Radvansky. Ob sie verrückt geworden sind, habe der Lagerkommandant gefragt; sie sollten nicht sterben, sondern arbeiten. Die Rebellen sind nicht hingerichtet worden. »Das war ein Wunder«, weiß Radvansky.

Seit 1943 befand sich der Rotarmist Mark Tilewitsch in Sachsenhausen. Verwundet war er 1941 in Kriegsgefangenschaft geraten. Im Lager leitete er eine geheime Gruppe, die zur Widerstandsorganisation unter General Aleksandr S. Sotow gehörte. Beim Herannahen der eigenen Truppen wollten sich die Männer erheben und selbst befreien. Doch die SS erfuhr von dem geplanten Aufstand und ermordete viele sowjetische Offiziere. Nach der Befreiung kehrte Tilewitsch in seine Heimatstadt Moskau zurück und betätigte sich als Journalist bei einer Automobilzeitschrift. Als Zeitzeuge lobt er die Solidarität der Norweger, die Pakete vom Roten Kreuz erhielten und den sowjetischen Kameraden etwas abgaben.

Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hält das multimediale Zeitzeugen-Archiv mit den Aussagen von Steinitz, Tilewitsch und anderen für einen großen Gewinn, »zumal persönliche Begegnungen mit Überlebenden in der Zukunft immer seltener möglich sein werden«. Zu den Interviews stehen jeweils Fotos und biografische Angaben. Bei den Zeitzeugen, die nicht Deutsch sprechen, gibt es Untertitel. Sieben Überlebende sind von Schülern des Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums in Oranienburg und Zehdenick interviewt worden.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.