Die verhinderte Gesamtdeutsche

Das doppelte Deutschland (4) – Die Verfassungen der beiden deutschen Staaten

  • Erich Buchholz
  • Lesedauer: 6 Min.
Wahlen zum Deutschen Volkskongress für die Einheit, Mai 1949
Wahlen zum Deutschen Volkskongress für die Einheit, Mai 1949

Vor 60 Jahren wurden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet. ND offeriert zu dem Doppeljubiläum eine Artrikelserie, die jeweils zu Monatsende an dieser Stelle zu lesen ist.

Im August 1945 las ich das Potsdamer Abkommen – an einer Litfasssäule in Berlin – mit voller Hoffnung. Im folgenden Jahr begann, nicht nur in Berlin, die Diskussion um eine neue gesamtdeutsche Verfassung. Sie war zwangsläufig mit der über die Ursachen des Hitlerfaschismus, die Versäumnisse der – gespaltenen – Arbeiterbewegung und das Ausmaß der Verbrechen der Hitler-Leute verbunden. Später hörte ich an der Humboldt-Universität die große Vorlesung von Professor Peter Alfons Steiniger zum Inhalt dieser Verfassung einer »Deutschen Demokratischen Republik«.

Die insulare Geburt des Grundgesetzes

Im Juni 1948 war ich im Stadtbezirk Tiergarten bei der Durchführung des Geldumtauschs in Westberlin eingesetzt. Auf den Banderolen der Bündel mit den neuen Geldscheinen las ich das Datum »17. Nov. 1947«. Die USA hatten also schon im Sommer des Vorjahres diese separate Währungsreform vorbereitet – zu einer Zeit, als die Debatte um eine gesamtdeutsche Verfassung bereits weit gediehen war, ein Text vorlag. Damals waren auch schon alle Landesverfassungen ausgearbeitet und, teilweise durch Volksentscheid, verabschiedet worden. In vielen fanden sich ähnliche Regelungen wie im Text der Verfassung für eine gesamtdeutsche Republik, darunter Bestimmungen zu sozialen Grund- und Menschenrechten sowie – unterschiedlich konsequent – über Einschränkungen der großen Monopole und Trusts und die Durchführung einer Bodenreform.

Diesen progressiven demokratischen Prozess jedenfalls für die drei Westzonen abzublocken, spalteten die Westmächte unter Verletzung des Potsdamer Abkommens Deutschland – zunächst durch die separate Währungsreform und dann auch politisch-staatsrechtlich. In ihrem »Frankfurter Dokument 1« vom 1. Juli 1948 verlangten die drei westlichen Militärgouverneure von den Landesregierungen der elf westdeutschen Länder die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung für die inzwischen gegründete Tri-Zone. Am 1. September 1948 wurde in Bonn aus 65 Abgeordneten der westdeutschen Landtage unter Vorsitz von Konrad Adenauers (CDU) ein Parlamentarischer Rat als Verfassungskonvent gebildet. Ein Sachverständigenausschuss hatte binnen weniger als zwei Wochen im Schloss auf Herrenchiemsee das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« vorzulegen. Der Text wurde nach Billigung der drei westlichen Alliierten am 8. Mai 1949 mit 53 gegen zwölf Stimmen (von KPD und CSU) im Parlamentarischen Rat angenommen. In der Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durften die westdeutschen Länderparlamente gemäß Artikel 144 zustimmen; Alternativen gab es nicht. Artikel 144 sah ausdrücklich keine Volksabstimmung und keinen Volksentscheid über die Verfassung vor, die von deren »Vätern« schamvoll »Grundgesetz« genannt wurde, um ihre Beihilfe zur Spaltung Deutschlands zu kaschieren.

Das Grundgesetz konnte nicht von den Bürgern Westdeutschlands diskutiert werden. Die in der Präambel zu findende Formulierung, dass »sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben« habe, ist somit unzutreffend. Dessen sind sich die Verfassungsrechtler bewusst. Deshalb wird die an sich notwendige »verfassungsrechtliche Grundannahme« fingiert, unterstellt. Der Geburtsfehler ist damit nicht behoben.

In der Präambel des GG wird behauptet, dass »auch für jene Deutsche gehandelt wurde, denen mitzuwirken versagt war«. Die Verfasser des Grundgesetzes wussten jedoch sehr wohl, dass seit September 1946 in Ost- und Westdeutschland über eine Verfassung für eine gesamtdeutsche demokratische Republik diskutiert wurde, nicht nur von Juristen. Rundfunk und Presse begleiteten die Diskussionen, die auch die unterschiedlichen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung reflektierten. Die 1947 auf Initiative der SED entstandene, unterschiedliche politische Kräfte vereinigende – dadurch auch nicht konfliktfreie – Volkskonressbewegung für Einheit und gerechten Frieden (Friedensvertrag mit Deutschland) nahm sich der Ergebnisse der Verfassungsdebatte in Ost und West an. Der vom Deutschen Volkskongress gebildete Deutsche Volksrat setzte einen Verfassungsauschuss ein. Dessen im Oktober 1948 der Öffentlichkeit präsentierte Entwurf wurde erneut öffentlich erörtert. 15 000 Vorschläge wurden unterbreitet, 503 konkrete Änderungswünsche eingereicht. Am 29./30. Mai 1949 tagte in Berlin der 3. Volkskongress; 1969 Delegierte aus ganz Deutschland (mehrheitlich aus dem Osten) verabschiedeten den Text der »Verfassung für eine Deutsche Demokratische Republik«.

Eine Woche zuvor, am 23. Mai, war das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Bonn verkündet worden; am 7. September trat gemäß dem GG der im August gewählte Bundestag zusammen. Damit in Ostdeutschland kein staatsrechtliches Vakuum entstehe, wurde nun auch dort die Staatsgründung angegangen. Der vom Volkskongress gewählte Deutsche Volksrat nannte sich am 7. Oktober 1949 in »Provisorische Volkskammer der (Ost-)Deutschen Demokratischen Republik« um. Der fertige auf ein parlamentarisch-demokratisches System orientierende Verfassungstext für Gesamtdeutschland wurde nun zur ersten Verfassung der DDR.

Recht auf Arbeit und Antifaschismusklausel

In Artikel 1 hieß es gemäß der ursprünglichen Bestimmung dieses Verfassungstextes: »Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik.« In der ersten DDR-Verfassung waren wie im Grundgesetz Meinungs- und Koalitionsfreiheit verbrieft. Eingeräumt wurden hier auch – ähnlich wie im späteren Art. 20 Abs. 4 GG – das Recht und die Pflicht zum Widerstand. Den Gewerkschaften wurde das Streikrecht verbrieft, das im GG nicht vorgesehen ist. Artikel 3 bestimmte nicht nur wie im Grundgesetz Artikel 20, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sondern auch, dass dazu ein Mitbestimmungsrecht der Bürger gehört und die Staatsgewalt dem Wohle des Volkes dienen muss. Die DDR-Verfassung bekannte sich zu Volksbegehren und Volksabstimmungen, also zu direkter Demokratie wie auch viele damalige Landesverfassungen. Artikel 24 bestimmte, weitergehender als Art. 14 und 15 GG: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen. Der Missbrauch des Eigentums durch Begründung wirtschaftlicher Machtstellung zum Schaden des Gemeinwohls hat die entschädigungslose Enteignung und Überführung in das Eigentum des Volkes zur Folge.«

Der Text des Grundgesetzes ist zeitlos, ahistorisch. In ihm sind die klassischen politischen und Bürgerrechte aufgeschrieben, wie sie in allen deutschen Verfassungen des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Bemerkenswert ist, was im Grundgesetz fehlt. Artikel 1 Absatz 2 handelt von Menschenrechten. Das Grundgesetz anerkennt jedoch selektiv nur politische Rechte als Grundrechte an. Soziale Rechte wie das auf Arbeit, das im Artikel 15 des Verfassungsentwurfes für Gesamtdeutschland und dann der ersten DDR-Verfassung wie auch – in unterschiedlicher Weise – in allen damaligen deutschen Länderverfassungen enthalten war, fehlt im GG. Ebenso fehlt eine Antifaschismusklausel, die in den Länderverfassungen, im gesamtdeutschen Verfassungstext (Art. 6 Abs. 2 und 24) sowie in der 1968 (von den Bürgern wiederum diskutierten) zweiten DDR-Verfassung (Art. 6 Abs. 5) zu finden ist.

Die 1990 von Kohl vereitelte Chance

Das Grundgesetz war von vornherein als Provisorium »für eine Übergangszeit« gedacht. Artikel 146 fixierte: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Die Chance ergab sich 1990. Aber Helmut Kohl ließ im März 1990 durch sein Presse- und Informationsamt apodiktisch erklären: »Das Verfahren nach Art. 23 des Grundgesetzes … ist ein rascher Weg, da keine neue Verfassung auszuarbeiten ist« und sei auch »ein innenpolitisch und außenpolitisch sicherer und zuverlässiger Weg«. Artikel 23 betrifft den »Beitritt« von Teilen Deutschlands (also nicht eines anderen Staates!) zum »Geltungsbereich des Grundgesetzes« (wie im Fall des Saarlandes 1955 sinnvoll geschehen).

Bei einem Beitritt hat der Beitretende keine Bedingungen zu stellen, vergleichbar dem Anschluss an einen Verein: Der Aufnehmende hat dem Beitretenden gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Er darf aber kassieren. Für die im Grundgesetz vorgesehene Einheit Deutschlands war Artikel 146 vorgegeben und kein anderer. Dieser mittlerweile veränderte Artikel sieht übrigens auch noch »nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands« die Möglichkeit einer vom gesamten deutschen Volk zu beschließenden Verfassung vor, durch die das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert. Wie lange sollen wir noch mit einem Provisorium leben?

Erich Buchholz (Jg. 1927) war Professor für Strafrecht an der Humboldt-Universität und Verteidiger im ersten Grenzerprozess nach 1990; zu seinen Mandanten gehörten später DDR-Richter und -Staatsanwälte. Jüngste Publikationen: »Dem Unrecht wehren!«, »Strafrecht im Osten« und »BRD-Grundgesetz vs. DDR-Verfassung«.

Demnächst: Filmaufklärung im geteilten Deutschland (Günter Agde)

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