»Der springt noch auf«

Vor hundert Jahren geboren: der Dichter Miklós Radnóti

  • Horst Haase
  • Lesedauer: 4 Min.
»Hirtenmuse«: Radnóti
»Hirtenmuse«: Radnóti

Das Foto aus dem Jahre 1937: ein junger Mann von 28 Jahren, lässige Haltung, Zigarette im Mundwinkel, die Mütze in kecker Schräge auf dem Kopf, ein Tuch locker um den Hals geschlungen. Leicht neigt er sich seiner noch mädchenhaften Gefährtin zu. Ein glückliches Paar. Allein seine halbgeschlossenen, verschleierten Augen lassen Spuren trauriger Erfahrungen ahnen, die den Dichter in dieser Zeit schon umtrieben. Auch ein Nachhall jener familiären Tragödie mag darin zu lesen sein, der Tod von Mutter und Zwillingsbruder bei seiner Geburt, dem der des Vaters bald gefolgt war. Wohlhabende Verwandte hatten ihm Bildung und Reisen ermöglicht. Er studierte Ungarisch, französische Literatur, war später, Übersetzer.

Zu dichten begann er früh. 1930 erschienen erste Lyrikbände, die ihm wegen des Verstoßes gegen die guten Sitten Prozess und Relegationsverfahren der Universität Szeged einbrachten. Seine Dichtung dieser und der folgenden Jahre ist weithin unbeschwert, heiter, sinnenfreudig. In ungebundenen Versen besingt sie Liebe und Freundschaft, Tages- und Jahreszeiten, fröhliche Gemeinsamkeit. Nun ist herangereift mein dreiundzwanzigstes Jahr,/ gesegnet von Sonnenlicht. Meine Geliebte/ ist vier Jahre jünger.(…) Ihren/ Kuß trage ich so wie den Schild in heroischer Schlacht.

Doch bald mischen sich andere Töne ein. Dunkelheit, Kälte, Schmerz gewinnen Raum, eine eher lakonische Sprache, strengere Formen und klassische Versmaße bestimmen zunehmend die Verse. Es sind soziale, politische Erfahrungen, die sich ihm in seiner Heimat und in Frankreich aufdrängen, auch die Kontakte mit Linksintellektuellen, Arbeitern, Kommunisten. Vor allem aber bewegen ihn die militärischen Konflikte jener Jahre, die größeres Unheil ankündigen. »Kriegstagebuch« heißt schon ein Zyklus von 1936. Darin sehr konkret: Man fertigt Gas, Tanks, Bomben wider mich – und: eine erste sehr anschauliche Vorahnung seines eigenen Todes. Die Kriege im Fernen Osten, in Äthiopien, den spanische Bürgerkrieg, Weltsorge, Welt-Gram, reflektiert er in seinen Strophen. Eindrucksvolle Naturbilder beschwören die Gefahren, tragen Leid und Zuversicht des Dichters, der sich als Kämpfer gegen die aufziehenden Wolfsrudel sieht und auf das Morgen der mündig gewordenen Söhne hofft. Aber auch Resignation, Ohnmacht werden artikuliert. Dennoch: Der Dichter schreibt, der Hund/ jault, es miaut die Katze, das Fischlein steigt vom Grund – die Poesie, das Schreiben sind, bleiben sein Leben.

Das steht in einer der acht Eklogen, Hirtenlieder, denen er zwischen 1938 und 1944, teils dialogisch gefasst, seine Erlebnisse und Gedanken, Sorgen und Erwartungen anvertraut: das Sterben García Lorcas und Attila Józsefs, die Bombenflieger, Sehnsucht nach echter Heimat, flehende Bitten an die Hirtenmuse, alttestamentarischer Zorn und Fluch dann in den letzten Teilen, die schon in jenem Arbeitslager geschrieben sind, das, in den serbischen Bergen gelegen, dem Dichter zur Vorhölle wurde.

In seinem Roman »Die Wohlgesinnten« hat Jonathan Littell kürzlich die Tragödie der ungarischen Judenheit akribisch beschrieben, die Sklavenarbeit, die mörderischen Häftlingskolonnen 1944. Radnóti, dessen eigentlicher Name Miklós Glatter war, hat sie am eigenen Leibe erlebt, das Ungeheuerliche in unter Lebensgefahr niedergeschriebene Verse gefasst. Die Orte, dahin sie in versiegelten Viehwagen reisten. Konkret-nüchtern das Arbeitslager in diesem todumhauchten/ serbischen Land. Zur Flucht getrieben, als Titos Partisanen nahten, tritt jener fürchterliche Gewaltmarsch quer durch Ungarn ins Bild, ein erschütterndes Gedicht, das der Katastrophe noch einmal das ersehnte friedliche Leben gegenüber stellt, die Heimat, die Natur, die geliebte Frau. Anklingend aber auch schon das tödliche Thema der letzten Verse, die man in seiner Jackentasche fand, als man seinen Leichnam nach Kriegsende aus dem Massengrab grub: Er stürzte neben mir. Sein Leib, gekrümmt, ward straff/ wie eine Seite straff wird vom Zerspringen,/ Genickschuß. Bleib nur ruhig liegen, dacht ich,/ die Kugel wird ein gleiches Los dir bringen,/ Geduld bringt Rosen – ja des Tods, du Tor!/ DER SPRINGT NOCH AUF! Schrie gellend eine Stimme/Schlamm, blutvermischt, trocknet an meinem Ohr.

Im Tod des Leidensgenossen ist das eigene Schicksal vorweggenommen, das ihn, 80 Kilometer weitergeschleppt, bei Abda, nahe Györ, am 9. November 1944 ereilte; ein literarisches Dokument des Mordens am Rande der Häftlingszüge, die gegen Ende des Krieges aus den Lagern getrieben wurden. Im ungarischen Text ist die Halbzeile DER SPRINGT NOCH AUF! deutsch geschrieben, der Sprache auch Clemens Brentanos, dem Radnóti eines seiner schönsten Gedichte widmete. Was aber war damit artikuliert? Man kann nur Scham, Verbitterung empfinden. Und sich der Hoffnung von Radnótis kongenialem Nachdichter Franz Fühmann anschließen, dass dieser Dichter seinen Schrein im Herzen der Menschheit finden, als einer ihrer Großen verehrt werden möge.

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