Wie ich ihn kennenlernte

Regisseur Rainer Simon und Humboldt

  • Lesedauer: 6 Min.
Heute vor 150 Jahren starb Alexander von Humboldt. Den Chimborazo zu besteigen, den mit 6310 Metern höchsten Berg Ecuadors, war für den großen Universalgelehrten eines der Expeditionsziele in Lateinamerika. Das Gemälde von F.G. Weitsch (1810) zeigt den Naturforscher am Fuße des Vulkans.
Alexander von Humboldt
Alexander von Humboldt

Es begann damit, dass mein 1980 in der DDR gedrehter Film »Jadup und Boel« verboten wurde, die Geschichte eines Kleinstadt-Bürgermeisters, der bemerkt, dass seine kommunistischen Ideale im Smog des real-existierenden Sozialismus dahin welken. Drehbuchautor Paul Kanut Schäfer und ich überlegten, was wir nach dieser schmerzlichen Erfahrung anpacken könnten. Ein DDR-Thema kam nicht in Frage, unsere Sicht unterschied sich zu sehr von der offiziellen. Schäfer hatte sich schon seit Jahren mit Alexander von Humboldt beschäftigt. Ich wusste damals kaum, Alexander von Wilhelm zu unterscheiden.

Als ich zu lesen begann, faszinierte mich sofort: Das war ein junger Mann, der sich durch nichts davon abbringen ließ, um den Traum seines Lebens zu kämpfen, ein Besessener, der sich für zu schade hielt, in der Masse unterzugehen.

Wer einen Film über Humboldt plant, kann seine Amerika-Reise nicht ausklammern. Noch keine 30 Jahre alt, brach er 1799 auf, die Reise führte ihn über Venezuela und Kuba ins heutige Kolumbien, Ecuador und Peru, in die Anden und in den Urwald, und dann über Mexiko in die USA, von wo er 1804 zurückkehrte. Das waren nicht gerade Drehorte, die DDR-Filmemachern zur Verfügung standen. So konzentrierten wir uns beim ersten Exposé auf Humboldts Aufenthalt auf Kuba, nur das schien uns einigermaßen realistisch. Doch Kuba wollte einen eigenen Humboldt-Film drehen.

Inzwischen hatte ich so viel über Humboldt gelesen, dass ich nicht aufgeben wollte. Schon als junger Mann hatte er sich mit so vielen Themen beschäftigt, über so vieles nachgedacht, wie es die meisten ihr Leben lang nicht tun. Geboren 1769 in Berlin, beginnt er 1787 in Frankfurt an der Oder zu studieren. 1789 setzt er die Studien in Göttingen fort und bricht auf zu einer ersten bescheidenen »naturhistorischen Studienreise« von Kassel über Marburg bis Mainz, wo er sich bei Georg Forster aufhält, der mit James Cook um die Welt gesegelt war und begeisterter Anhänger der gerade stattgefundenen Französischen Revolution ist. Ein Jahr später folgt mit Forster die erste große Reise, den Rhein hinunter, dann Aachen, Brabant, Flandern, Holland, hinüber nach England, zum ersten Jahrestag der Revolution wollen sie in Paris sein.

»Schon der Versuch einer Revolution weckt Kräfte im Menschen, die ihn zu höherer Reife und Verstandeskraft führen«, sagt Forster in unserem Film und Humboldt: »Bei uns sind die Missstände zwar auf einem hohen, noch aber nicht auf dem höchsten Punkt. Man kann es noch aushalten, deshalb ist alles ruhig.«

Humboldts Lebensstationen wechseln rasch, Studien an der Bergakademie in Freiberg, Arbeit als Bergassessor dort, später in Steben, wo er die erste freie Bergschule Deutschlands gründet. Mit 23 Jahren wird er zum Oberbergmeister in den fränkischen Fürstentümern ernannt, die »Flora Fribergensis« erscheint und immer wieder Reisen, Mitteldeutschland, Böhmen, Schlesien, Westfahlen, Holland, Oberitalien bis Genua, quer durch die Schweiz.

25 Jahre alt, trifft er in Jena das erste Mal Goethe und Schiller. Gemeinsame galvanische Studien und Besuche des »Anatomischen Theaters« folgen. Er konstruiert eine Rettungslampe für Bergleute, unternimmt Selbstversuche am eigenen Körper. In Preußen will man ihn zum Minister machen. Zu Bruder Wilhelm sagt er: »Der Staat, die Verhältnisse, Bindungen – wenn wir nicht in uns die Kraft finden, uns zu wehren, zu widerstehen, zerschellen unsere Träume wie die aller anderen… und das Leben ist vorbei, ehe es begonnen hat.«

Ende 1796, nach dem Tod der Mutter, steht ihm sein Erbteil zur Verfügung, nun kann ihn nichts mehr von der großen Reise abhalten. 1798 lernt er in Paris den Arzt und Botaniker Aimée Bonpland kennen, der ihn begleiten wird. Vor Amerika wollen sie die italienischen Vulkane studieren und nach Nordafrika übersetzen, Napoleons Krieg verhindert das. 1799 erhält Humboldt vom spanischen König Karl IV. die Generalvollmacht zum Besuch aller spanischen Kolonien in Amerika. Wie er das geschafft hat, gibt bis heute Anlass zu Spekulationen.

In den Mittelpunkt des neuen Filmprojekts wollten wir die Jugendjahre Humboldts stellen, an ein Drehen in Südamerika wagte keiner von uns damals zu glauben. Lediglich als Schlussbild dachten wir uns die Besteigung des Chimborazo, als Metapher für die Erfüllung des Lebenstraums. Gerade dass Humboldt den Gipfel nicht erreichte, gefiel mir gut. Den Gipfel schafft keiner, etwas bleibt immer offen.

Doch auch als dieses Drehbuch fertig war, kamen wir nicht weiter. Der DDR fehlten die Devisen für Drehorte im westlichen Ausland, ein Koproduzent fand sich nicht. Ich drehte unterdessen drei weitere Filme und hatte den Humboldt-Stoff beinahe schon abgeschrieben. Doch Anfang 1987 einigten sich die beiden Teile Deutschlands, eine offizielle Koproduktion zu realisieren. Wir hatten Glück, Humboldt war für beide Seiten wohl politisch unverdächtig. Doch mit seiner Besessenheit, sein Leben selbst zu bestimmen, steht er in krassem Gegensatz zu heutigen Anpassungsstrategien, wo es nur darauf ankommt, Geld zu verdienen, um als Verbraucher zu funktionieren. Von Selbstverwirklichung spricht niemand mehr.

1987 flogen Paul Kanut Schäfer und ich gemeinsam mit dem westdeutschen Produzenten das erste Mal nach Südamerika, nach Ecuador, denn aus der umfangreichen Reise stellten wir uns vor, die Etappe von Quito bis zum Chimborazo zu erzählen. Wir flogen das erste Mal in ein Land der sogenannten »Dritten Welt.« Es war ein Schock. Eine solche Armut hatte ich vorher noch nicht gesehen, doch auch eine solche von Herzen kommende Freundlichkeit war mir neu. Wir sahen uns in Ecuador um auf Humboldts Spuren, der dort bekannter schien als in Deutschland. Danach schrieben wir ein neues Drehbuch, in dem der Südamerika-Teil die Hälfte des Films einnahm. Es galt auch zu erkunden, ob man am Chimborazo mit einem Spielfilmteam drehen kann. Ich stieg mit einem indianischen Bergführer bis auf 5500 Meter, etwa so hoch wie Humboldt gekommen war. Auch für mein Leben wurde dieser Berg zum prägenden Erlebnis. Tayta Chimborazo ließ mich nicht mehr los.

Als Filmemacher interessierten mich Humboldts Beschreibungen der Menschen weitaus mehr als das Konvolut seiner Aufzeichnungen über Pflanzen, Tiere und Steine. Es ist seltsam, dass es davon vergleichsweise wenige gibt, doch man findet sie.

Forster hatte Humboldt zu Bedenken gegeben: »Ich habe oft gedacht, ob es nicht besser wäre, die Eingeborenen das Fürchten zu lehren, damit sie sich wehren können, denn der gewöhnliche Kreislauf ist, dass den weißen Forschern die weißen Eroberer folgen.

Humboldt kam zu dem Schluss: »Um zu einer Weltanschauung zu kommen, muss man sich die Welt anschauen.« Er war ein Mensch der Aufklärung, wissbegierig, vorurteilsfrei, tolerant, auch den indianischen Ureinwohnern gegenüber. Missionarstum verabscheute er. Ihm war klar, dass die Europäer mit Schwert und Kreuz in Amerika eingefallen waren, dass unter dem Deckmantel der Christianisierung Völkermord begangen wurde.

Zwei Monate nach der Premiere unseres Films fiel die Mauer, und ich konnte viel schneller wieder nach Ecuador reisen, als ich erträumt hatte. Im Laufe der Jahre lernte ich nicht nur die Anden, sondern auch den Urwald kennen. Ich drehte drei Filme mit Indígenas, die ich in ganz Amerika in indianischen Gemeinden, auf Festivals, an Universitäten und Goethe-Instituten zeigte. Eine ganze Schar indianischer Patenkinder sind Teil meines Lebens. Ich hoffe, dass Zeiten kommen, wo ihnen ein menschenwürdiges Leben möglich wird.

Rainer Simon, geb. 1941, einer der großen DEFA-Regisseure. Filme u.a. »Das Luftschiff« (1982), »Wengler & Söhne« (1986), »Die Frau und der Fremde« (1985). Dokfilme »Die Farben von Tigua«, »Mit Fischen und Vögeln reden«, »Der Ruf des Fayu Ujmu«. Autobiografie »Fernes Land – die DDR, die DEFA und der Ruf des Chimborazo« (2005); »Regenbogenboa«, Roman über ein Leben im Urwald Amazoniens (2005).

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