Chronist von Zerstörung und Aufbau

Der Gropiusbau ehrt den Fotografen Hannes Kilian zum 100. Geburtstag

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Guggenheim Museum, New York 1969
Guggenheim Museum, New York 1969

Wie aufgeschreckt hebt in Großaufnahme Gina Lollobrigida 1957 die Hände, wenn man den Ausstellungsraum im Martin-Gropius-Bau betritt. Flankiert wird sie von zwei schlichten Alltagsmotiven: links zwei Männer, die wie gebannt durchs Fernglas schauen, rechts Kater Nemos Rückfront im Schnee. Von der Wand gegenüber weist 1969 John Cranko lachend mit der Hand aus dem Foto heraus und scheint die Filmdiva zu meinen.

Vier Impressionen umreißen einen Teil jenes Bildkosmos, der Hannes Kilian über ein halbes Jahrhundert hinweg zu einem Fotojournalisten von höchstem Rang erhoben hat. In zehn Abteilungen mit rund 320 Fotos sucht die Ausstellung zum 100. Geburtstag einzufangen, was Kilian ausmacht – falls sich ein Erbe von geschätzt einer halben Million Fotos überhaupt thematisch zuordnen lässt.

Am Bodensee wurde er 1909 geboren, wäre gern Pilot oder Kameramann geworden, absolvierte eine Lehre zum Fotografen in der Schweiz, arbeitete in Luzern, bis ihn die Weltwirtschaftskrise heimholte. Hitlers Diktatur weicht er ins Ausland aus, findet in Neapel, dann in Paris Betätigung, als Reiseleiter, als Assistent von René Clair. Die auslaufende Arbeitserlaubnis treibt ihn zurück, wo er als Kriegsberichterstatter eingezogen wird. Verwundet vor Stalingrad, darf er nach Hause, gerade noch rechtzeitig, um heimlich das Bombardement auf Stuttgart zu fotografieren. Ab 1946 wird er zum kritischen Chronisten des deutschen Wiedererstehens, bereist den Globus, publiziert bald in führenden Zeitungen und Magazinen, erlebt Ausstellungen, gibt Fotobände heraus. Kurz nach seinem 90. Geburtstag endet ein mehr als erfülltes Leben.

Was die Kurzvita lakonisch bündelt, spiegelt sich realiter in ungemein vielen Facetten. Besonders verbunden ist Kilian stets Deutschland. Erschütternd sind jene 1944 mit versteckter Kamera entstandenen Fotos vom zerstörten Stuttgart, in dessen Trümmern Menschen nach Verschütteten buddeln, spätere Aufnahmen etwa einer bescheidenen Tafelrunde zwischen Ruinen, von ausgezehrten Kriegsheimkehrern, einem musizierenden Invaliden vorm ebenfalls invaliden Kölner Dom, leidvoll fragenden Kinderaugen. Kilian fixiert den Wiederaufbau, Montage in Betrieben, Autokolonnen, erste Bälle, die ersten Fettwänste des Wirtschaftswunders, wirft den Blick durch den Stacheldraht ins andere Deutschland.

Es sind die Blickwinkel und Perspektiven, die seinen Bildern vom Schicksal einer Generation ungewöhnliche Ästhetik verleihen und neben dem erschöpften Kumpel auch die lachende Trümmerfrau zulassen. Kurfürstendamm und Stalinallee treffen aufeinander, wie 1937 auf der Weltausstellung in Paris aus der Untensicht die monströsen Pavillons Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion.

Kilian ist kein politischer Fotograf, wohl aber ein menschlich Anteil nehmender. Auch konnte er auf zahllosen Auslandsreisen, die Künstler wie Clochard oder das Guggenheim Museum in New York erfassen, totfotografierten Werken neue Sichtweisen abgewinnen. Stars aller Couleurs kamen ihm vor die Linse, zunehmend kaprizierte er sich aufs Theater, wurde signifikanter Wegbegleiter des Stuttgarter Balletts unter John Cranko. Auch mit Themenkreisen wie Sport und Porträt weist er sich selbst als exorbitanten Künstler aus.

Bis 29.6., Martin-Gropius-Bau

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