Das Magdeburger Modell wird wohl im nächsten Monat auslaufen

Acht Jahre Tolerierung wandelten Zusammenarbeit von SPD und PDS vom Sünden- zum Normalfall

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.

Trotz aller Unkenrufe hat das Magdeburger Modell zwei Wahlperioden überdauert. Jetzt wird die »wilde Ehe« von SPD und PDS einvernehmlich aufgelöst.

Jens Bullerjahn räumt auf. Seit dem Frühjahr 1994 haben sich im Büro des Eislebener SPD-Abgeordneten im Magdeburger Landtag jede Menge Artikel und Briefe angehäuft, die sich um ein Thema drehen: das »Magdeburger Modell«, die seit acht Jahren andauernde Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung durch die PDS in Sachsen-Anhalt. Er habe alles aufgehoben, sagt Bullerjahn, der die parlamentarischen Geschäfte der SPD-Fraktion führt. Jetzt geht es ans Sortieren: »Die Sammlung ist abgeschlossen.« Das Magdeburger Modell ist zum Auslaufmodell geworden. Wenn am 21. April in Sachsen-Anhalt der neue Landtag gewählt ist, wird es erstmals seit 1994 wieder eine Koalitionsregierung geben. »Nach acht Jahren ist Schluss«, sagt Bullerjahn. Der Abschied von der Tolerierung ist lange angekündigt. Beide Parteien wollen eine »normale« Politik-Ehe - wobei die SPD offen hält, wer die Braut sein soll. Dass die Beziehung überhaupt zwei volle Legislaturen hält, hatte 1994 niemand erwartet. Minderheitsregierungen haben in der Bundesrepublik, anders als in Skandinavien, einen schlechten Leumund. Zu tief haben sich die instabilen politischen Verhältnisse während der Weimarer Republik ins Gedächtnis eingegraben. Als sich der SPD-Politiker Reinhard Höppner im Juli 1994 entschied, eine rot-grüne Regierung zu bilden, die erstmals in der bundesdeutschen Geschichte von Beginn einer Wahlperiode ohne Mehrheit amtieren würde, hatten Unkenrufer Hochkonjunktur. Nachdem die Sachsen-Anhalter bereits zwischen 1990 und 1994 kaum Zeit gehabt hatten, sich die Gesichter der drei rasch wechselnden CDU/FDP-Kabinette einzuprägen, wetteten nur wenige darauf, dass Höppners Kabinett die Zeit bis zur nächsten Wahl überstehen würde. Es klang Verwunderung mit, als die Berliner »tageszeitung« nach zwei Jahren titelte: »Der Magdeburger Dom steht noch.« Die ungewöhnliche Konstellation sollte indes weitere sechs Jahre überdauern - und dabei kaum mehr Schlagzeilen produzieren als andere Regierungen. Von »stabilen Verhältnissen« spricht Höppner im Rückblick. Auch das Magdeburger Modell hatte seine Krisen. Zeitweise wurde fast im Monatstakt über die bevorstehende Entzweiung orakelt. Zur schwersten Belastungsprobe wurde das Kinderbetreuungsgesetz im Jahr 1999, als die PDS den zuvor ausgehandelten Haushaltskompromiss platzen lassen wollte, weil steigende Kita-Gebühren die Basis in Aufruhr versetzten. Höppner drohte mit Neuwahlen; erst ein »dreifacher Rittberger« der Sozialisten (so ÖTV-Chef Manfred Bartsch) kittete die Risse. Die scheinbare Anfälligkeit hatte ihre Gründe auch darin, dass in Magdeburg »Politik auf dem Marktplatz« gemacht wurde, wie PDS-Fraktionschefin Petra Sitte erklärt: Kontroversen, die andernorts hinter verschlossenen Türen ausgefochten werden, gelangten hier umgehend an die Öffentlichkeit. Das sei »kräftezehrend, aber demokratischer« gewesen, so Bullerjahn. »Die Öffentlichkeit war hilfreich«, ergänzt Sitte. Verdienst des Magdeburger Modells ist es jedoch nicht, das Ansehen von Minderheitsregierungen aufpoliert zu haben. Zwar sprach Sitte 1994 bereits davon, dass »fest gefügte Koalitionen ein politisches Auslaufmodell« seien. Auch heute noch verhehlt sie ihre Sympathien für die Regierungsform nicht. Es werde »keine Nachahmer« geben, sagt Bullerjahn. Der »besondere Grund« für eine Minderheitsregierung sei nicht mehr gegeben, meint auch Regierungschef Höppner. Dieser »besondere Grund« war nicht die fehlende eigene Mehrheit, sondern die Zusammenarbeit mit der PDS nur fünf Jahre nach dem Bankrott der DDR und ihrer Vorgängerpartei SED. Höppner hatte daher eine Tolerierung durch die PDS, wie sie deren damaliger Magdeburger Wahlstratege und heutiger Bundestags-Fraktionschef Roland Claus am 17. Januar 1994 erstmals öffentlich ins Spiel brachte, bis zum Wahltag rundheraus abgelehnt. Auch für seine Wahl zum Ministerpräsidenten bedurfte es theoretisch nicht der aktiven Mithilfe der Sozialisten: Höppner reichte am 27. Juli 1994 im dritten Wahlgang eine einfache Mehrheit; die meisten PDS-Abgeordneten enthielten sich. Spätestens bei der Suche nach Mehrheiten wurden die Sozialisten zu gefragten Partnern. Die Beteiligung der PDS an der Macht war 1994 ein Skandalon. Vor allem Unionspolitiker überschlugen sich in hysterischen Kommentaren. Als »modellhaft für ein Volksfrontbündnis« bezeichnete CSU-Generalsekretär Erwin Huber die aufgehobene Ausgrenzung; Bundeskanzler Helmut Kohl sah den »Konsens aller Demokraten« aufgekündigt und wetterte gegen die »rotlackierten Faschisten«. Im Landtag warf CDU-Fraktionschef Christoph Bergner, der sich trotz seines hauchdünnen Wahlsieges auf der Oppositionsbank fand, den Sozialdemokraten blinden Machtrausch vor. Äußerst kritisch wurde Höppners Wagnis auch in der SPD-Bundeszentrale beäugt. Die Niederlage von Kohls damaligem Herausforderer Rudolf Scharping bei der folgenden Bundestagwahl wurde auch dem Magdeburger Tabubruch angekreidet. Weit weniger aufgeregt urteilte man im Land selbst. Die Zusammenarbeit, stellte der damalige Grünen-Parteichef Jürgen Trittin bei einem Besuch in Magdeburg fest, funktioniere im Alltag »fast schon erschreckend normal«. Wesentlichen Anteil daran hatte der bündnisgrüne Fraktionschef Hansjochen Tschiche, der als »Pendeldiplomat« (Sitte) über die Magdeburger Landtagsflure eilte. Obwohl das Modell wechselnder Mehrheiten schnell an der Fundamentalopposition der CDU gescheitert war, scheuten viele der sachsen-anhaltischen Sozialdemokraten vor direkten Kontakten mit den vermeintlichen »Schmuddelkindern« noch zurück. Das änderte sich bei der Wahl im Frühjahr 1998 gründlich. Als Höppner nach dem Ausscheiden der Bündnisgrünen von der SPD-Bundeszentrale zu einer Großen Koalition mit dem klaren Wahlverlierer CDU vergattert wurde, kam es zu Tumulten in der Landes-SPD. Nur aus Angst um eine erneute Niederlage im Bund werde Höppner »politisch entmannt und die SPD im Osten unglaubwürdig«, kritisierte die »Süddeutsche Zeitung«. Fast folgerichtig scheiterten die Verhandlungen zwischen SPD und CDU nach wenigen Tagen - vorgeblich an Differenzen über den Umgang mit der rechtsextremen DVU. Beide Seiten profitierten: Ministerpräsident Höppner konnte das bewährte Modell fortsetzen, und die Union bekam Pulver für den Wahlkampf im Bund. CSU-Generalsekretär Bernd Protzner geiferte, Höppners erneute Kür zum Regierungschef sei die »schmutzigste Wahl in einem deutschen Parlament seit 1933« gewesen. Andernorts wurde das Votum, bei dem Höppner diesmal bereits im ersten Wahlgang die Stimmen der PDS erhielt, weniger aufgeregt beobachtet. Der Berliner »Tagesspiegel« meinte, die Wahl habe »die Bundesrepublik verändert«. Derlei Pathos mag SPD-Mann Bullerjahn nicht teilen. In Magdeburg ist aus dem Sünden- längst der Normalfall geworden. Da würden »faire Partner« zusammenarbeiten, sagt Bullerjahn. Er räumt ein, dass dies »für viele in Deutschland noch unvorstellbar« sei. Neben den Parteifarben hätten auch Umgangsformen für Aufsehen gesorgt, glaubt Petra Sitte: »Wir hocken nicht wie Glucken in unseren jeweiligen Nestern.« Anfangs seien die Magdeburger Verhältnisse im Westen »wie ein Phänomen im Ausland« bestaunt worden, so Roland Claus. Inzwischen, meint Fraktionschefin Sitte, hat das Magdeburger Modell bundesweit den Horizont erweitert: »Wir haben dem Osten Aufmerksamkeit verschafft - wenn auch mit einem kontroversen Ausgangspunkt.« Für die Sozialdemokraten wurde mit dem anfangs skeptisch beäugten Modell die Tür für neue parlamentarische Mehrheiten in Ostdeutschland aufgestoßen. »Konkreter Umgang statt akademischer Debatte«, nennt das Bullerjahn, der »Schnittmengen« mit der PDS besonders im sozialen Bereich sieht. Schaden für seine Partei vermag er nicht zu erkennen. Zum Beleg verweist er auf Länder, in denen die SPD einen Kurs strikter Abgrenzung fuhr: »Wie stehen wir denn in Thüringen und Sachsen da?!« Dass die rot-roten Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern und inzwischen auch in Berlin ohne die Magdeburger Vorarbeit nicht zu Stande gekommen wären, gilt als ausgemacht. Auch für die PDS hatte der Praxistest die Wirkung eines Katalysators, meint Sitte: Ohne das Regierungsmodell »wäre die große linke Partei PDS im Osten in der Bedeutung gesunken«. Die alltägliche Beschäftigung mit Haushalt und Gesetzen habe eine »politisch-ideologische Klärung« in der Partei herbeigeführt. Eine »Entzauberung«, wie sie sich viele von der politischen Einbindung der PDS versprochen hatten, sei nicht eingetreten. Den Realitätssinn ihrer Genossen aber habe die Machtbeteiligung geschärft, meint die PDS-Politikerin. Magdeburg, darüber scheint weitgehend Einigkeit zu bestehen, steht heute als Chiffre für die Etablierung der Sozialisten im bundesdeutschen parlamentarischen System. »Die PDS ist eine ganz normale Partei«, heißt es jetzt bei Höppner. Während CSU-Kanzlerkandidat Stoiber immer noch die »strammen Kommunisten« im deutschen Osten geißelt, sprechen selbst sachsen-anhaltische Unionspolitiker von der PDS längst als »Volkspartei«. Das Magdeburger Modell hat keine Zukunft. Den »ständigen Debatten über instabile Verhältnisse« müsse der Boden entzogen werden, sagt Jens Bullerjahn. Die PDS hofft auf Ministerposten und Einfluss in den Verwaltungen. Ein wenig Sentimentalität aber schwingt bei den Bilanzen mit. So viel Aufmerksamkeit wie seit 1994 werde der Landespolitik wohl nicht so bald wieder zuteil. »Wir werden noch an die Zeit zurückdenken«, prophezeit Bullerjahn. Roland Claus hat dafür schon einen augenzwinkernden Vorschlag: In dem Land, das sich so viel auf seine kulturellen und historischen Erinnerungsorte zugute hält, könne man nun über ein...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.