Die Risse in den Fassaden

60 Jahre in Gesprächen – auch mit Ostdeutschen

  • Günther Frieß
  • Lesedauer: 3 Min.

In den letzten 20 Jahren führte der Journalist und »stern-Autor« Arno Luik zahlreiche Interviews mit Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport, aber auch mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Jetzt präsentiert er 25 Deutsche. Es sind, so heißt es im Vorwort, »25 Blicke – in die alte BRD, in die absterbende DDR, in das vereinigte Deutschland danach«.

Der Titel des Bandes macht neugierig. Die Portraits von Joschka Fischer, Angela Merkel, Boris Becker, Katharina Witt und Oskar Lafontaine auf dem Umschlag stehen stellvertretend für den bunten Mix, der geboten wird. Zu den Interviewten gehören u. a. Jürgen Todenhöfer, Götz Werner, Joachim Unseld, Angelika Schrobsdorff, Michael Rogowski, Manfred Rommel, Oswalt Kolle, Friedhelm Hengsbach und Christoph Hein.

Wenn Luik seine Gesprächspartner über sich reden lässt, vermischen sich mitunter die Grenzen zwischen privater Person und öffentlichem Bekenntnis. Oft erhält er überraschende und verblüffende Antworten auf nicht gestellte Fragen: »Was ist Deutschland? Was verbindet uns Deutsche, wenn uns etwas verbindet?« Luik interessieren nicht die Fassaden, er sucht vielmehr die Risse darin. Dabei macht er es sich und seinen Gesprächspartnern nicht immer leicht. Der Interviewprofi nähert sich seinen Protagonisten zwar mit viel Empathie und Respekt, doch wenn diese mauern oder selbstgefällig schwadronieren, dann hakt Luik hartnäckig nach, ohne jedoch indiskret zu werden. So wirft er Joschka Fischer die Frage an den Kopf: »Kann es sein, dass Sie sich überschätzen?«

Mit Rudolf Scharping hatte es Luik besonders schwer, als dieser ihn im Bundestagswahlkampf 1994 anherrschte: »Ist Ihnen eigentlich klar, mit wem Sie sprechen?« Scharping sei zwar ein Extremfall, räumt Luik ein, allerdings stehe er für eine Haltung, die durchaus typisch sei für Gesprächspartner, die in wichtigen Positionen sind und sich als unersetzlich wähnen. Scharping zog das Gespräch zurück, ebenso wie Martin Walser, mit dem sich Luik im Sommer 2001 »neun Stunden lang gefetzt, zwischendurch mit ihm gelacht und dann wieder gestritten« hat. Rückblickend meint Luik, vielleicht sei er ihm zu nahe gekommen. Walser jedoch hat dieses Gespräch zu einem Essay zur gängigen journalistischen Praxis inspiriert, der hier als Nachwort abgedruckt ist.

Otto Graf Lambsdorff berichtet, dass er nach dem Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 beinahe die Widerständler hätte erschießen müssen. Aus den Gesprächen mit dem aidskranken Kabarettisten Günter Thews oder dem Brandopfer Hans Hammerstingl erfährt Luik »so viele Wahrheiten über Deutschland, dass Mächtige dagegen hilflos und bedürftig erscheinen«. Von Franz Müntefering will Luik wissen, »wie er innerhalb von Tagen eine komplette Verwandlung vom Sozialdemokraten alter Prägung zum marktliberalen Staatsreformer durchlaufen hat«. Und der ostdeutsche Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski erklärte 1995, zwei Jahre vor seinem Tod, warum er vor der Wende ein »alter Kommunist mit einem großen Glücksgefühl« war.

Nach manchem Gespräch plagen Luik Selbstzweifel: Ob er nicht vielleicht zu weit gegangen ist, wie etwa im Gespräch mit Inge Jens, der Frau des seit 2004 an schwerer Demenz erkrankten Walter Jens. Auf seine Frage, »Frau Jens, Sie sind die Witwe eines Mannes, der noch lebt?«, erhält er die ergreifende Antwort: »Den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr.« Auf die titelgebende Frage, »Wer zum Teufel sind Sie denn nun?« antwortete Angela Merkel im Jahr 2000, sie sei ehrgeizig und eine Kämpfernatur. Zudem erfährt der Leser, dass die Bundeskanzlerin als Kind Ballettänzerin werden wollte.

Der lesenswerte Band lädt zu einer unterhaltsamen wie bewegenden Zeitreise durch sechs Jahrzehnte Deutschland ein.

Arno Luik: Wer zum Teufel sind Sie nun? Sechzig Jahre Bundesrepublik – Gespräche über uns. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 336 S., geb., 22 €.

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