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Das verschwundene Jahrtausend
Russischer Forscher behauptet: In unserer Geschichte hat es nie ein Mittelalter gegeben
Unter den so genannten Zeitrevisionisten, die an der Abfolge der überlieferten Geschichte zweifeln, genießt der russische Mathematiker Anatoli Timofejewitsch Fomenko derzeit höchste Popularität. Denn der Leiter des Projekts »Neue Chronologie« an der Moskauer Lomonossow-Universität will herausgefunden haben, dass die Geschichte der Welt um ein ganzes Jahrtausend kürzer gewesen ist, als wir gemeinhin annehmen. Auch habe es nie ein Mittelalter gegeben; dieses sei vielmehr eine Erfindung der Renaissance. Und so lebten wir heute auch nicht im Jahr 2002, sondern erst im Jahr 1002.
Damit stellt Fomenko sogar den Münchner Publizisten Heribert Illig in den Schatten, der in seinem Bestseller »Das erfundene Mittelalter« nur knapp 300 Jahre aus dem Kalender tilgen möchte, nämlich die Jahre zwischen 614 und 911 und mit ihnen alles, was laut Geschichtsbuch in jener Zeit geschehen ist. Als Argument führen Illig und Fomenko unter anderem ins Feld, dass in den astronomischen Grundlagen der Chronologie, das heißt der Lehre von der Messung und Einteilung der Zeit, fundamentale Fehler enthalten seien.
Um einen dieser Fehler kenntlich zu machen, verweist Fomenko auf den US- amerikanischen Astrophysiker Robert R. Newton, der bereits 1972 einen Parameter der Mondbeschleunigung analysiert hat, von dem Wissenschaftler annehmen, dass er zeitlich konstant ist. Sämtliche Messungen der letzten 700 Jahre konnten dies bestätigen. Als Newton jedoch Datierungen von Sonnenfinsternissen aus sehr alten Chroniken in seine Mondgleichung einsetzte, schwankte dieser Parameter. Im 10. Jahrhundert zum Beispiel fiel er unerklärlicherweise ab, was den Schluss nahelegt, dass die Mondbahn seinerzeit recht instabil gewesen sein muss.
Hier nun hakt Fomenko ein: Newton habe unwissentlich falsche Datierungen von Sonnenfinsternissen verwendet. Man müsse nur die verschiedenen Chroniken miteinander vergleichen, um zu erkennen, dass bestimmte, weit zurückliegende Sonnenfinsternisse einige Jahrhunderte später in ähnlicher Form erneut am Himmel zu beobachten waren. Würde man deren Daten in die Mondgleichung einsetzen, bliebe der betreffende Parameter konstant.
Für Fomenko ist diese astronomische Zeitverschiebung zugleich Anlass, die gesamte klassische Geschichtsschreibung zu revidieren, die in ihren Grundzügen bis auf den französischen Humanisten Joseph Scaliger zurückgeht. Dieser hatte 1582 aus den Chroniken des griechisch-römischen, babylonischen, ägyptischen, persischen und jüdischen Kulturkreises eine zeitliche Ordnung der Geschichte konstruiert, die von Anfang an heftige Kontroversen auslöste. Auch Isaac Newton hielt Scaligers Chronologie für »zu lang«. In der Absicht, die Wahrheit der Bibel zu beweisen, kürzte der Begründer der klassischen Physik die griechische Geschichte um rund 300 Jahre, weil, wie er meinte, ähnlich klingende Namen von griechischen Herrschern häufig ein und die selbe Person beschrieben. Mithin lebten diese nicht in zwei aufeinander folgenden Zeiträumen, sondern nur in einem.
Ganz ähnlich argumentiert Fomenko, wenn er etwa darauf hinweist, dass in manchen Chroniken der jeweilige Herrscher eines Reiches mit positiven Attributen belegt werde: der Große, der Glückliche, der Wohltätige. Dagegen bezeichneten die Chronisten eines anderen Reiches, das im Krieg von jenem Herrscher besiegt wurde, diesen mit negativen Eigenschaften: der Böse, der Grausame, der Schwarze. »Also tauchen die selben Ereignisse mit unterschiedlichen Masken und Kostümierungen auf. Scaliger hat höchstwahrscheinlich die Chroniken, die die gleichen Ereignisse beschreiben, auf der Zeitachse nicht nebeneinander angeordnet, sondern hintereinander.« Um solche historischen Duplikate ausfindig zu machen, hat Fomenko in einer aufwändigen mathematischen Prozedur alle verfügbaren Chroniken nach Übereinstimmungen abgesucht und dabei angeblich sechs historische Blöcke gefunden, die in der Scaliger-Chronologie mehrfach auftauchen. Auf diese Weise würden in der Geschichte rund 1000 Jahre eingespart, so dass, wie Fomenko behauptet, der Beginn der Antike ins 10. Jahrhundert rutsche. Und mit Christi Geburt als Bezugspunkt unserer Zeitrechnung - die laut neuer Chronologie im 11. Jahrhundert erfolgt sein soll - befänden wird uns heute erst im Jahr 1002. Hingegen sei das Mittelalter der klassischen Historiographie zum großen Teil mit Ereignissen gefüllt, die man später dort hinein projiziert habe.
Mag allein die Behauptung, 1000 Jahre überlieferter Geschichte seien frei erfunden, als abwegig erscheinen, sprechen nicht zuletzt astronomische Gründe gegen Fomenkos Thesen. »Es gibt keine Anzeichen für Instabilitäten der Mondbahn im Zeitraum der überlieferten Geschichte«, betont der Bochumer Astronom Wolfhard Schlosser. Diese entstünden auch dann nicht, wenn man mit den Daten von alten Sonnenfinsternissen arbeite. Überhaupt liegen die von Robert R. Newton ermittelten Schwankungen der Mondbahn am Rande des wissenschaftlich Nachweisbaren, so dass gar kein Grund besteht, sie zu eliminieren und dafür die Datierung der Sonnenfinsternisse zu verändern.
»Sollte es tatsächlich eine Phantomzeit in unserer Geschichte gegeben haben«, meint der Direktor der Berliner Archenhold-Sternwarte Dieter B. Herrmann, »dann dürften alle vor oder in dieser Zeitspanne liegenden Sonnenfinsternisse niemals stattgefunden haben.« Nun sind, wie man heute weiß, die frühen astronomischen Aufzeichnungen häufig sehr ungenau. Dennoch wurden einige Sonnenfinsternisse richtig überliefert, so dass man mittels Rückrechnung überprüfen kann, ob sie sich tatsächlich am angegebenen Ort und zur angegebenen Zeit im Rahmen unserer Chronologie ereignet haben. Zwei derartige Sonnenfinsternisse wurden von dem Chronisten Hydatius am 19. Juli 418 und am 23. Dezember 447 in Chaves (Portugal) beobachtet. Und es gibt nachweislich keine Möglichkeit, so Herrmann, diese beiden Himmelsereignisse in der Zeit um mehrere Jahrhunderte in Richtung Gegenwart zu verschieben. Denn niemals wieder haben in Chaves zwei Sonnenfinsternisse im selben Zeitabstand stattgefunden.
Und noch etwas spricht gegen Fomenko: Die kegelartige Kreiselbewegung der Erdachse, die so genannte Präzession, führt mit einer Periode von rund 25800 Jahren dazu, dass die Positionen der Sterne sich in den gebräuchlichen astronomischen Koordinatensystemen linear mit der Zeit verändern. Das brachte den Münchner Informatiker Franz Krojer auf die Idee, aus den Positionsverschiebungen eines Hauptsterns im Sternbild Jungfrau, über die bereits die griechischen Astronomen Timocharis (294 v. Chr.) und Hipparchos (150 v. Chr.) in ihren Aufzeichnungen berichten, die seit damals verflossene Zeit zu berechnen. Dabei weicht sein Ergebnis von der historischen Überlieferung lediglich um 14 Jahre ab. Das heißt im Klartext: Die Chronologie der Weltgeschichte enthält zumindest seit Beginn u...
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