Kunstglück aus Zorn und Weisheit

Zum Tode des deutschen Theaterregisseurs Jürgen Gosch

  • Christoph Funke
  • Lesedauer: 4 Min.

Widerstreitenden Reaktionen auf seine Theaterarbeit ist Jürgen Gosch nie ausgewichen. Er machte keine Zugeständnisse. Er kannte kein Tabu. Er jagte dem Erfolg nicht hinterher. Und ging, rücksichtslos auch sich selbst gegenüber, durch Wände. Begeisterung hat er hervorgerufen und Ratlosigkeit.

Unbeirrbar ist der 1943 in Cottbus Geborene seinen Weg gegangen. Dass er Publikum und Kritiker oft verstörte, hat er gelassen in Kauf genommen. Dabei war er den Bedenkenträgern zumeist viele Schritte voraus. Im Politischen und im Ästhetischen ließ er sich nicht festlegen. Und in den letzten, reifen Jahren gelangen ihm große, ganz große Theaterabende. Sie bahnten Wege in noch völlig unerforschte Bereiche der Bühnenkunst hinein. Mit seinen Tschechow-Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin schuf Jürgen Gosch pures, unvergessliches Theaterglück.

Als er am 28. April dieses Jahres am Schluss seiner Inszenierung »Idomeneus« von Roland Schimmelpfennig im Rollstuhl den jubelnden Beifall des sich von seinen Plätzen erhebenden Publikums im Deutschen Theater entgegennahm, gab es Tränen, oben auf der Bühne, unten unter den Zuschauern. Die Ahnung von Abschied lag in der Luft, eine Ahnung, die nun Gewissheit geworden ist.

Ein Erneuerer, oft heftig bekämpft, hatte die Herzen des Publikums erobert und zu einer Überlegenheit gefunden, in der Melancholie und Zuversicht aufgehoben sind. Ausgebildet an der Staatlichen Schauspielschule Berlin, machte Gosch zum ersten Mal 1978 mit einer Inszenierung von Georg Büchners »Leonce und Lena« auf sich aufmerksam. Und erntete heftigen Widerspruch.

Er schuf damals im souveränen, frechen Umgang mit dem Text eine explodierende Fülle von theatralischen Bildern und Zeichen, fügte Clownerien aneinander, die sich weit vom Dialog entfernten, ein völlig selbständiges Leben für sich beanspruchten. Das war einer der entschiedensten Versuche im DDR-Theater, Klassiker radikal nach ihrer Ausstrahlung ins Gegenwärtige hinein zu befragen und umzubauen – Gosch ließ durch kühne Assoziationen keinen Zweifel daran, in welch enger Verwandtschaft der Pipi-Popo-Staat in Büchners Lustspiel mit der DDR des Jahres 1978 stand.

Diese politische – weit mehr noch als die ästhetische – Radikalität seiner Aufführung verbaute Gosch danach weitere Arbeitsmöglichkeiten in der DDR. Er siedelte in die Bundesrepublik über, arbeitete in Hannover, Bremen und Köln. Für seinen »Ödipus« mit Ulrich Wildgruber erhielt er 1985 den Europäischen Theaterpreis auf der Theaterbiennale in Venedig.

Zwei Jahren am Hamburger Thalia Theater folgten Opern-Inszenierungen in Frankfurt/Main und Amsterdam und eine glücklose Zeit an der Schaubühne Berlin. Für seine »Macbeth«-Inszenierung erntete Gosch vernichtende Kritiken, und 1989 verließ er das Haus am Lehniner Platz. Er blieb ein Einzelgänger, ließ sich nur schwer in Verantwortung zwingen, die über die jeweilige Aufführung hinausging. Eine Art Heimat fand er dann aber doch am Deutschen Theater Berlin seines Freundes Thomas Langhoff und am Schauspielhaus Zürich. Solche Aufzählungen, der Chronistenpflicht geschuldet, sagen allerdings nur wenig. Gosch suchte immer sein Bild von der Welt, rücksichtslos und beschwörend zugleich, zwang Aufführungen in eine gedankliche Klammer, durch die sie völlig neu erfahrbar wurden.

Etwa 2005 am Düsseldorfer Schauspielhaus, mit Shakespeares »Macbeth«. Sieben meist nackte Männer besudelten sich mit Ketchup-ähnlichem Kunstblut. Sie bestäubten sich mit Mehl wie zum Plätzchenbacken, tobten herum wie außer Rand und Band geratene Kinder im Sandkasten. Macbeth wollte in dieser Aufführung gar nicht König werden, mit den anderen ging er nackt und schutzlos durch die Welt. Blankes Entsetzen holte Gosch in ein übermütiges tolldreistes Spiel.

Und dann, scheinbar ein völliger Umschlag, »Onkel Wanja« und »Die Möwe« am Deutschen Theater. Gosch beschwor tiefe Trauer über sinnlos vergehendes Leben und schenkte Tschechows Figuren doch zugleich eine einzigartig wehmütige, entsagende Heiterkeit, die noch nicht gänzlich erloschene Hoffnung auf einen Daseins-Sinn. Tschechows Gestalten mit ihren dunklen, verhüllten Schicksalen kamen leise, aber auch mit heftigen Ausbrüchen auf eine schmalen Streifen vor der Bühne, ohne Raum zum Leben, in verzweifelter Bedrängnis. Zwischen ihnen vibrierte die Luft.

Das Eingesponnensein in eine eigene Welt innerster Aufrichtigkeit und unausweichlicher Verstörung macht das Ergreifende, Beklemmende, Wahrhaftige dieser jüngsten Tschechow-Aufführungen aus.

Unermüdlich war der im Mai dieses Jahres mit dem Theaterpreis Berlin (gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Johannes Schütz) ausgezeichnete Regisseur auf der Suche. Was er fand, genügte ihm nicht. Jede Aufführung war ein neuer Versuch, und immer entschiedener forschte er nach den Verflechtungen individueller Anstrengung und individuellen Versagens mit den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Auf Zorn und körperliche Entfesselung folgten dabei Gelassenheit, Zartheit, Anmut, und – Weisheit.

Diesen Regisseur auf eine Formel bringen zu wollen, wäre töricht. Wir hätten ihn noch lange gebraucht, für ein Theater, das uns in die Pflicht nimmt, uns bewegt und ins Wesentliche zwingt.

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