Schale Tränen Jahre später?

Die Schuld an Vietnam: Robert McNamara, tätige Reue und eine Qualität in der Politik

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Anfang des Monats Robert McNamara 93-jährig in Washington starb, ging das Leben eines Mannes zu Ende, der einer der meistgehassten und später hochgeschätzten Manager und Politiker war. Und ein Musterbeispiel für Reue in der Politik, was manche für einen seltenen Segen, andere einen furchtbaren Fluch halten.

Reue ist eine explosive Größe. Sie polarisiert und entzweit. Sie heilt und schlägt Wunden. Sie gewinnt Glaubwürdigkeit zurück und erledigt (für andere) den letzten Rest an Aufrichtigkeit. Reue nennen viele die Einsicht, falsch gehandelt zu haben, andere eine Unsitte, durch die nichts gebessert wird. Zwei Große: »Weh, wer zu spät bereut!« (Shakespeare) und: »Nichts taugt Ungeduld, noch weniger Reue. Jene vermehret die Schuld, Diese schafft neue.« (Goethe) Noch öfter zitiert Churchills verführerische Diktum: »Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand.« Aber was ist mit sechzig?

Reue, diese Behauptung sei schon hier gewagt, ist grundsätzlich Tugend, zivilisatorische Haltung und Kulturbewahrer. Sie verkörpert Hoffnung auf humanistischen Erkenntnisgewinn, auch wenn die Beispiele von leerer, gar instrumentalisierter Reue nicht selten – die Beispiele von aufstampfender offener Reuelosigkeit sogar Legion sind. Eines der jüngeren Beispiele für letztere Kategorie: Am Tag der Amtseinführung seines Nachfolgers Obama erklärte George W. Bush im texanischen Midland: »Wenn ich heute Abend nach Hause komme und in den Spiegel blicke, werde ich nicht bedauern, was ich sehe, außer vielleicht ein paar graue Haare ... Die Geschichte wird über meine Entscheidungen richten. An diesem Morgen verließ ich das Oval Office aber mit denselben Werten, die ich acht Jahre zuvor nach Washington mitgebracht hatte.« In der Politik, in West wie Ost, Nord und Süd tritt Reuelosigkeit gern im härenen Gewand von Standhaftigkeit und Gewissenstreue auf. Präsident Bush, dessen Archiv mit zwei Transportflugzeugen und 14 Lkw in eines seiner Häuser nach Dallas gebracht worden war, ist da keine Ausnahme.

Was schon deshalb den Fall McNamara erinnerungswürdig, die Persönlichkeit freilich alles andere als anbetungswürdig macht – Reue ist ja kein Freispruch, keine von der Welt beglaubigte Vergesslichkeitsbescheinigung. McNamara, der Mann mit dem nass zurückgekämmten, fast in der Mitte gescheitelten Haar, der agile Intellektuelle, den die Präsidenten Kennedy und Johnson für ihren besten Mann im Kabinett hielten, dieser McNamara, der als Präsident des Ford-Konzerns nach Washington geholt, von 1961 bis 1968 Verteidigungsminister und weitere 13 Jahre Weltbankpräsident war, kam vor allem als Architekt des Vietnamkriegs in die Geschichtsbücher. Als Senator Wayne Morse schon 1964 – als Vietnam und den Vietnamesen aus amerikanischer Hand das Schlimmste noch bevorstand – Vietnam »McNamaras Krieg« nannte, hatte der Kalifornier keine Einwände. »Es freut mich, mit diesem Krieg identifiziert zu werden«, entgegnete er, »und alles zu tun, was ich kann, um ihn zu gewinnen.« Eine halbe Million Amerikaner marschierten auf sein Geheiß an den Mekong, 58 000 von ihnen starben – neben über drei Millionen Vietnamesen. Das soll auch an dieser Stelle nicht vergessen sein, da das Thema ein anderes ist.

Vietnam wurde McNamaras Albtraum, hat ihn, allem Anschein nach, zu einem Umdenken und zu verändertem Handeln beispielsweise in seiner Zeit als Weltbankpräsident bewogen. 1995 bezog er in seinen Erinnerungen Stellung und gestand, dass der Vietnamkrieg und seine eigene Rolle »falsch, schrecklich falsch« war. McNamara, den John F. Kennedy »den klügsten Menschen« nannte, der ihm »je begegnet« sei, erntete einen Sturm aus Hohn, Spott und Verachtung. Das widerfährt Menschen oft, die öffentlich Reue zeigen. Angesichts der Schuld, die McNamara im Verein mit anderen amerikanischen Politikern, Managern und Militärs auf sich geladen hatte, verwundert das nicht. Die »New York Times« schrieb damals in einem Leitartikel: »Ganz sicher soll er (McNamara) in jeder ruhigen und vergnügten Minute das unaufhörliche Flüstern jener armen Jungs aus der Infanterie hören müssen, die im hohen Gras starben, Einheit für Einheit, ohne jeden Sinn. Was er ihnen genommen hat, kann nicht vergolten werden mit einer Entschuldigung zur besten Sendezeit und mit schalen Tränen drei Jahrzehnte später.« Wer wollte solcher Einschätzung widersprechen? Macht es die Frage nach Reue oder Reuelosigkeit unerheblich?

McNamara fragte später: »Was macht eine Sache, wenn du verlierst, unmoralisch und nicht unmoralisch, wenn du gewinnst?« Er fand es unmöglich, die Frage verlässlich zu beantworten und trug damit natürlich nicht zur Beruhigung der Kritiker bei. Auch McNamara gab sich damit nicht zufrieden, suchte wie zuvor als Macher der Macht – nun immerhin mit anderer Richtung – nach Klarheit in der Vielschichtigkeit (»searching simplicity in complexity«). Die wichtigste seiner Lehren aus dem Verbrechen des Vietnamkriegs bezeichnete er in dem Dokumentarfilm »The Fog of War: Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara«, in dem er auch sagte, Leute wie er und Luftwaffengeneral Curtis LeMay hätten »wie Kriegsverbrecher gehandelt«, so: Man muss seinen Feind kennen und sich in ihn hineinversetzen. Wir haben versagt, den Feind und die Grenzen von Hightech-Waffen zu begreifen. Wir haben versäumt, dem amerikanischen Volk die Wahrheit zu sagen und die Natur der kommunistischen Gefahr verständlich zu machen. »Ich bin überzeugt«, fügte er hinzu, »dass wir diese Gefahr übertrieben haben.«

Da McNamara, der Pensionär, sich vom Irakkrieg der USA, von militärischen Alleingängen Washingtons und besonders von jeder Planung für einen Kernwaffenkrieg distanzierte, womit er vor seinem Tod geistige Zuarbeit für Obamas Zielstellung einer kernwaffenfreien Welt leistete, kann man mit aller Vorsicht annehmen, dass die Reue über seine Vietnamschuld vielleicht mehr als ein neuer Versuch war, sein Mäntelchen in neuen Wind zu stellen. Wenn Reue Verstand ist, der zu spät kommt, aber wenigstens Verstand und nicht nur Zerknirschung darüber, erwischt worden zu sein, ist Reue mehr wert als Reuelosigkeit über begangenes Unrecht. Ein Blick in die Geschichte gerade unter diesem Blickwinkel ist aufschlussreich. Abgesehen davon, welche Schlussfolgerung jeder Einzelne zieht, hier einige Beispiele von Reue und Reuelosigkeit:

Kaing Guek Eav, Leiter eines Foltergefängnisses der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 in Kambodscha vor dem Völkermordtribunal bei Phnom Penh: »Ich möchte meine tiefempfundene Reue und mein Bedauern über die Verbrechen zum Ausdruck bringen, die zwischen 1975 und 1979 verübt wurden. Ich habe die Befehle zwar von der Partei Angkar erhalten, aber ich bin allein für die Verbrechen verantwortlich. Ich bitte nicht um sofortige Vergebung, aber ich hoffe, die Angehörigen der Opfer können später einmal verzeihen.«

Christian Klar, Ex-RAF-Terrorist, 2001 im Fernsehinterview mit Günter Gaus auf die Frage nach Reue: »In dem politischen Raum, vor dem Hintergrund von unserem Kampf, sind das keine Begriffe.« In seinem Gnadengesuch 2003 an Bundespräsident Rau: »Selbstverständlich muss ich eine Schuld anerkennen. Ich verstehe die Gefühle der Opfer und bedauere das Leid dieser Menschen.«

Karl-Heinz Kurras, Kriminalhauptmeister, der am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration in Westberlin den Studenten Benno Ohnesorg erschoss: »Eine eventuelle neue juristische Untersuchung des Falls Ohnesorg fürchte ich nicht. Niemand, auch der Staatsanwalt nicht, wird glauben, dass ich einen Mord begangen habe. Ich bin rechtskräftig freigesprochen, fertig. ... Ich hätte damals so oft auf Ohnesorg schießen sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur ein Mal.«

Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, in seinem Erinnerungsbuch »Der Absturz« (Rowohlt, 1991): »›Wie fühlst du dich denn jetzt?‹ wurde ich häufig gefragt. Vor allem fühle ich mich schuldig. Schuldig, obwohl das Scheitern des sozialistischen Experiments in der DDR vorprogrammiert war. Zu lange habe ich Zweifel an unserer messianischen Anmaßung abprallen lassen. ... Ich habe mit zu verantworten, daß die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit, die diese Welt braucht, in Verruf gekommen ist.«

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