Initiative 21 fordert mehr Toleranz

Bündnis gedenkt der verstorbenen Drogenabhängigen und appelliert an die Humanität der Öffentlichkeit

  • Sarah Liebigt
  • Lesedauer: 4 Min.
Gedenken an die Drogentoten in Berlin.
Gedenken an die Drogentoten in Berlin.

Die Sonne scheint auf den Oranienplatz, rings um die Wiesen wehen blaue, weiße und orangefarbene Luftballons im Wind, zig rote Kerzen sind zur Zahl 152 aufgestellt. Es riecht nach Bratwürsten, Autos rauschen vorüber, Fahrräder knirschen über den Kies. Neben zwei Mikrofonständern stimmt einer seine Gitarre, Frauen und Männer stehen in Grüppchen und unterhalten sich leise. Doch der Eindruck, hier würde ein Jahrestag oder ein Kiezfest gefeiert, stellt sich gar nicht erst ein.

Mitten im Stadtteil Kreuzberg beging der »Initiativkreis 21. Juli« den Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige: Man wolle ein Zeichen setzen für Humanität und Miteinander. Das Bündnis, dem die Berliner und die Deutsche Aids-Hilfe, der Notdienst Berlin, Fixpunkt und Junkies Ehemalige Substituierte (JES) Berlin angehören, forderte anlässlich des Gedenktages eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der sozialen und gesundheitlichen Situation Drogen gebrauchender Menschen.

Gegenüber dem Jahr 2007 reduzierte sich die Zahl der verstorbenen Drogenabhängigen in Berlin von 158 auf 152. Die Gründe für diesen Rückgang lägen auch »in den professionellen Angeboten für Schwerstabhängige«, erklärte Heike Krause vom Notdienst Berlin.

Von Humanität und Toleranz gegenüber Drogenabhängigen war jedoch in den vergangenen Monaten in der öffentlichen Diskussion um den Drogenkonsumraum am Kottbusser Tor nicht viel zu spüren. Nachdem Anwohner gegen den Druckraum und die Szene rund ums Kottbusser Tor mobil gemacht und dort immer wieder Polizeieinsätze stattgefunden hatten, wurde der Druckraum im Juni geschlossen. Kerstin Dettmer vom Verein Fixpunkt meinte dagegen: »Der Drogenkonsum in der Dresdener Straße war nicht Ursache für die Zunahme der drogenszenen-bedingten Belastungen am Kottbusser Tor.« Sie forderte am Dienstag eine verstärkte Unterstützung von der Politik bei der Suche nach einem neuen Druckraum in Kreuzberg. Im Jahr 2008 habe es in Berliner Druckräumen 48 Fälle gegeben, in welchen einem Drogenabhängigen durch sofortige Erstehilfe-Maßnahmen das Leben gerettet werden konnte. 48 Fälle, die belegten, wie wichtig ein solcher Raum sei, so Dettmer. Claudia Rey von der Berliner Aids-Hilfe machte bereits im Vorfeld des Gedenktages deutlich, dass die Zahl der HIV- und Hepatitisinfektionen sowie der Drogentodesfälle im Kiez ansteigen könnte, sollte nicht »schnell ein neuer Standort für den Drogenkonsumraum« gefunden werden. In den Druckräumen erhalten Drogengebrauchende sauberes Besteck oder saubere Spritzen, auch ist in der regel medizinisch geschultes Personal anwesend, das im Notfall eingreifen kann. Den ehemaligen Druckraum »SKA« am Kottbusser Tor beispielsweise suchten täglich etwa 35 Menschen auf. Kerstin Dettmer vom Verein Fixpunkt teilte am Dienstag mit, dass das Präventionsmobil vormittags ersatzweise für das geschlossene »SKA« von Montag bis Freitag am Moritzplatz in der Prinzenstraße stehen werde.

Kreuzbergs Sozialstadtrat Knut Mildner-Spindler (LINKE) nutzte die Gedenkstunde, um den Kreuzberger Projekten zur Hilfe und Beratung bei Drogensucht und Schwerstabhängigkeit anhaltende Unterstützung zu versichern. Er appellierte jedoch auch an die Öffentlichkeit, wieder mehr Toleranz zu zeigen. Die Art und Weise der Debatte erschwere die Anmietung von Räumlichkeiten für einen Drogenkonsumraum erheblich, kritisierte Mildner-Spindler. Man könne auch mit einem Karren voll Gold durch SO 36 ziehen, trotzdem bliebe die Suche erfolglos. Indes: »Die Suchthilfe muss da sein, wo auch die Drogenszene ist.«

Zum Gedenken der verstorbenen Drogenabhängigen, das in Berlin zum 11., und auf dem Oranienplatz zum zweiten Mal stattfand, fanden sich gestern etwa 50 Menschen ein. Nachdem die Teilnehmer die vielen Opferkerzen der 152 angezündet hatten, gedachten sie mit einer Schweigeminute der verstorbenen Freunde, Bekannten und Angehörigen. Ihr Ende fand die Gedenkstunde, indem die Luftballons gelöst und in den Himmel entlassen wurden. Inmitten der städtischen Geräuschkulisse flogen die Ballons gen Stadtmitte.

Drogenkonsum in Berlin

  • 165 000 Menschen konsumieren in der Hauptstadt illegale Drogen, unter ihnen 8000 bis 10 000 Opiatabhängige (Stand 2006).
  • Im Jahr 2008 starben 152 Menschen an den Folgen ihres Drogenkonsums (123 Männer und 29 Frauen). 2007 waren es 158 und im Jahr 2006 173.
  • Das Durchschnittsalter der an Drogenkonsum Verstorbenen ist 2008 leicht angestiegen und lag bei 35,2 Jahren (2007: 34,7 Jahre). Vier junge Menschen starben 2008 im Alter von erst 17 Jahren an Drogen.
  • Heroin liegt bei diesen Fällen unter den nachgewiesenen Substanzen weiterhin an 1. Stelle (Heroinanteil: 2008: 63 %, 2007: 77 %).
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal