Der böse Flaschenwurf

Gefängnisstrafe nach den 1-Mai-Krawallen

  • Lesedauer: 3 Min.
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen.
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen.

»Linke Chaoten«, »roter Mob«, »gewaltbereite Autonome« – für die Boulevardpresse und Politiker rechts von der LINKEN ist glasklar, wer die Steine- und Flaschenwerfer zum 1. Mai auf Polizisten sind. Einer der Täter, der 27-jährige Magnus, stand gestern vor Gericht.

Angeklagt ist er des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall, der versuchten Körperverletzung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Er soll, so die Anklage, am 1. Mai, gegen 22.51 Uhr, aus einer Gruppe von 50 Randalierern heraus in der Adalbertstraße eine Glasflasche aus zehn Metern Entfernung gegen einen Polizisten geschleudert und ihn am Oberschenkel getroffen haben. Der Uniformierte war gut eingepackt, er spürte den Aufprall gar nicht und nahm sofort die Verfolgung des Flaschenwerfers auf. Der versuchte zu fliehen und lief genau in die Arme einer Hundertschaft. Er fiel zu Boden, zerschnitt sich die Hände an auf der Straße liegenden Glassplittern, wurde gefesselt und landete in Untersuchungshaft.

Vor Gericht sitzt ein nervöser, unkonzentriert wirkender junger Mann, seine Haare zum Zopf gebunden. Statt eines Geständnisses ergreift die Rechtsanwältin das Wort. Sie bedauert das Geschehen im Auftrage ihres Mandanten. Sie erklärt, dass sich Magnus am Tattag an nichts mehr erinnern kann.

Die geistige Umnachtung begann am späten Nachmittag und endete erst in der Zelle. Dazwischen lagen Unmengen von Alkohol, Haschisch und die Ersatzdroge Methadon. Nach seiner Verhaftung wurde ermittelt, dass er zum Tatzeitpunkt mehr als 3,0 Promille Alkohol im Blut gehabt haben muss. Dazu die Drogen. Magnus ist schwerstabhängig, nach seiner Schlosserlehre hat er nie einen Job bekommen und lebt von Hartz IV. Die Sinnlosigkeit seines Seins hat ihn fertig gemacht. Mehrfach stand er schon wegen Diebstahl, fahrlässiger Trunkenheitsfahrt und Erschleichen von Leistungen vor Gericht. Keine Arbeit, keine Freunde, keine Erfolgserlebnisse. Zudem ist seine rechte Hand nach einem Unfall im letzten Jahr beschädigt. Er hat aber, wie der Polizeizeuge vor Gericht bestimmt erklärt, mit der rechten Hand geworfen.

Das ist der Punkt, wo die Verteidigerin auf eine Wende im Prozess hofft. Magnus kann gar nicht mit der rechten Hand werfen, also ist er nicht der Täter, argumentiert sie. Da er seine rechte Hand auch im Gerichtssaal normal einsetzt, geht das Gericht jedoch davon aus, dass der Linkshänder im Zustand der Volltrunkenheit auch mit einer kranken Hand eine Flasche werfen kann. Das Gericht verurteilte Magnus nicht wegen der angezeigten Delikte, sondern wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung. Ein Täter muss bei seiner Tat in vollem Bewusstsein handeln, sonst kann er dafür nicht verurteilt werden.

Das Erschreckende an dem Fall ist eigentlich nur, dass ein Mann wie Magnus als tickende Zeitbombe an einem Ort weilte, wo Zehntausende den 1. Mai feierten. Es ist eine gefährliche Mischung aus Alkohol, Dunkelheit, Massenpsychose und massiver – bedrohlich empfundener – Polizeipräsenz, die einen eigentlich friedlichen, aber kranken Mitmenschen zum Gewalttäter werden lässt.

Magnus, das zeigte der Prozess, ist weder links noch autonom. Er ist einfach nur eine traurige Gestalt, der mit dem Leben nicht klarkommt. Was er braucht, ist intensive Betreuung und eine Lebenschance. Das wird die Großbuchstabenmedien nicht davon abhalten, weiterhin von »linken Chaoten« zu schreiben, wenn es um Gewalt am 1. Mai geht.

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