Jüdisches U-Boot tauchte wieder auf
Dagobert Lewin versteckte sich als junger Mann in Berlin jahrelang vor den Faschisten
»Wenn ich ein SS-Fahrzeug in der Nähe sah, duckte ich mich in einen Hauseingang oder versteckte mich kurz in einer Ruine. Sonst ging ich einfach immer weiter. Wohin ich auch blickte, überall nur Zerstörung und Chaos. Aus der Entfernung konnte ich Artillerie hören – die Russen.«
Jahrelang versteckte sich der junge Jude Dagobert Lewin in Berlin vor der Gestapo. Gemeinsam mit seiner Schwiegertochter, einer vormaligen Nachrichtenredakteurin des Senders CNN, schrieb er seine Geschichte auf. Der Bericht »Versteckt in Berlin« fesselt. Er liest sich wie ein Abenteuerroman. Kaum zu glauben, was Lewin zwischen 1943 und 1945 erlebte, aber es war tatsächlich so. Man merkt es dem großartigen Buch nicht an, dass Lewin vieles verdrängte, nachdem er in die USA auswanderte. Durch aufwändige Recherchen musste er seine Erinnerungen auffrischen. Nach jahrelanger Arbeit erschien im Jahr 2001 die englische Version. Nun liegt auch eine deutsche vor.
Lewin entging dem Transport ins Lager Trawniki zunächst nur deshalb, weil er eine Metallarbeiterlehre absolviert hatte und die Faschisten ihn noch in der Rüstungsindustrie brauchten. Dem schwerhörigen Vater nutzte es nichts, dass er sich einst in der Metallbranche hochgearbeitet und eine kleine Firma mit 15 Beschäftigten aufgebaut hatte. Die Faschisten ermordeten Lewins Eltern in Trawniki.
Unterwegs zu seiner Arbeitsstelle in einer Gewehrfabrik in Treptow warnt ein Kollege am 27. Februar 1943: »Sie laden die jüdischen Arbeiter auf Lastwagen... Du musst umkehren und verschwinden.« Gemeinsam mit seiner Frau Ilse und dem kleinen Sohn Klaus taucht Dagobert unter. »U-Boote« nannten sich die Berliner Juden, die sich Verstecke suchten, um der Deportation zu entkommen. 1700 von ihnen haben den Zweiten Weltkrieg überlebt. Als Hitler die Macht übernahm, wohnten in der Stadt ungefähr 160 000 Juden, als die Deportationen im Jahr 1941 begannen, waren es noch knapp 65 000. Nur 8000 überstanden den Krieg versteckt oder in Konzentrationslagern sowie an der Seite deutscher Ehepartner.
Die junge Familie Lewin kriecht zunächst bei einem Alkoholiker in Kreuzberg unter. Doch der uriniert im Suff in sein Wohnzimmer, bis es bei den Nachbarn durch die Decke rieselt und die sich bei der Polizei beschweren. Für Lewins wird es in der Wohnung zu gefährlich, in der sie den kleinen Klaus ohnehin nur schwer ruhig halten können.
Gegen Hitler eingestellte Christen in Lübars nehmen den Jungen und die Mutter auf. Doch ein junger Mann, der nicht bei der Wehrmacht dient, wäre in dieser dörflichen Gegend Berlins aufgefallen. Dagobert muss sich eine andere Bleibe suchen. Er entwickelt eine Strategie, immer wieder seinen Standort zu wechseln. Mal schläft er in den Ruinen zerbombter Häuser, mal bei dem blinden Steglitzer Kommunisten Paul Richter. Ein jüdischer Freund – ebenfalls ein U-Boot – besorgt einmal falsche Pässe und SS-Uniformen. Verkleidet installieren sie Projektoren für Kinosäle der SS. Ein Auftrag führt sie sogar ins KZ Sachsenhausen, doch da muss Dagobert draußen warten.
Lewins Vater hatte in weiser Voraussicht Gürtelschnallen gebastelt, in denen er wertvolle Briefmarken verbarg. Diese Briefmarken macht der Sohn zu Geld. Er verdient aber auch etwas – arbeitet zum Beispiel als Mechaniker in der kleinen Autowerkstatt eines Ehepaars, das zur verbotenen Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas gehört. Aber die SS nimmt diese Werkstatt in Beschlag, nachdem eigene Reparaturwerkstätten in Schutt und Asche fielen.
Schließlich lebt Dagobert im Wald und fängt Tauben, um seinen Hunger zu stillen. Beim Schnitzen verletzt er sich und sucht in Lübars Zuflucht. Dort ergreift ihn die Gestapo kurz vor dem Kriegsende. Doch Dagobert gelingt das Unglaubliche. Er macht aus einem Stück Bleirohr einen Schlüssel, flieht am 15. April 1945 mit zwei Leidensgenossen aus dem Gefängnis und versteckt sich ausgerechnet in einem Gebäude, in dem eine NSDAP-Geschäftsstelle untergebracht ist. Deswegen misstrauen ihm die sowjetischen Soldaten im Moment der Befreiung. Sie sind nahe daran, ihn zu erschießen. Verzweifelt erzählt Dagobert von seinem Moskauer Onkel Boris, einem Elektroingenieur, der Lehrbücher verfasste. Einer der Soldaten ist von Beruf Elektriker und kann mit dem Namen Boris Lewin etwas anfangen – das letzte Wunder in einer Kette glücklicher Zufälle, die Dagobert das Leben gerettet haben. Auch Ilse und Klaus überleben, doch die nur aus der Not heraus geschlossene Ehe geht in die Brüche.
Tante Riva aus Litauen möchte mit dem Neffen nach Israel, doch er erhält keine Einreisegenehmigung. Stattdessen holen ihn 1949 entfernte Verwandte in die USA. Dort heiratet er erneut, bekommt Kinder und Enkel. Ab 1976 kooperiert er mit einer Bielefelder Maschinenfabrik, deren Erzeugnisse er bis 1991 in den USA vertreibt. Genervt von den Schwierigkeiten der Amerikaner, seinen Namen richtig auszusprechen, ändert er ihn in Bert Lewyn.
Bert Lewyn und Bev Saltzman-Lewyn: »Versteckt in Berlin«, Metropol Verlag, 352 Seiten (brosch.), 19 Euro, ND-Buchbestellservice, Tel.: (030) 29 78 17 77
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