Das Wettzüchten von Radieschen

Angela Merkels Schwierigkeiten mit der DDR – der Verdrängung eigener Vergangenheit geschuldet?

  • Klaus Blessing
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie lächelt uns von nichtssagenden Wahlplakaten verklärt an: »Wir haben die Kraft«. Welche Kraft? Und sie verspricht: »Für ein neues Miteinander«. Mit wem? Sie erscheint oben entblößt: »Wir haben mehr zu bieten«. Was meint sie?

Angela Merkel ist ein Kind der DDR. Wenige Wochen nach ihrer Geburt in Hamburg zog die Familie 1954 nach Templin. Die Tochter eines den humanistischen Idealen des Sozialismus verbundenen Pfarrers genoss eine hervorragende Schulbildung, konnte gefördert durch staatliches Stipendium Physik studieren und an einer der renommiertesten akademischen Einrichtungen der DDR, an der Akademie der Wissenschaften, arbeiten und promovieren. Sie nahm an mehreren wissenschaftlichen Konferenzen im sozialistischen Ausland teil und bereiste im dienstlichen Auftrag mehrfach die Sowjetunion. Als 32-Jährige wurde ihr privater Besuch der Bundesrepublik gestattet.

Richtig politisch aktiv wurde die einstige FDJ-Agitationssekretärin in der Wendezeit im Demokratischen Aufbruch, der nach der Enttarnung von IM Wolfgang Schnur bei der CDU unterschlüpfte. Der danach durch die bis heute nicht aufgeklärte CDU-Spendenaffäre und diverse Machtspiele mit Koch, Merz, Rühe, Rüttgers, Schäuble, Stoiber, Wulff und anderen einsetzende unaufhaltsame Aufstieg der Angela Merkel an die Spitze der bundesdeutschen politischen Macht ist weitgehend bekannt.

Mit der Kanzlerschaft einer Ostdeutschen hätten der deutschen Politik durchaus neue Möglichkeiten eröffnet werden können. Zum einen wäre eine kritische und schöpferische Aufarbeitung des DDR-Systems vorteilhaft gewesen, um vorhandene positive Erfahrungen – wie mit Sozialpolitik, Arbeitsgesetzgebung, Gesundheits- und Bildungswesen sowie für alle erschwingliche Kultur – in das Gesellschaftssystem des vereinten Deutschland einzubringen. Von einer ostdeutschen Regierungschefin wäre auch zu erwarten gewesen, dass wenigstens ansatzweise Unrecht wieder gutgemacht würde, das den Ostdeutschen im Prozess des Beitritts durch Raub des Volkseigentums, großer Teile der Spareinlagen und politischer Entmündigung zugefügt worden ist. Wer solche Hoffnungen in Frau Merkel gesetzt haben sollte, sah sich bald enttäuscht. Liegt das an ihrem verzerrten Rückblick auf ihre eigene Vergangenheit, mit dem sie immer wieder ihre Zuhörer und Zuschauer zu verblüffen versteht?

»Damals in der DDR wollte man ja eigentlich nicht arbeiten, um die Existenz dieses Staates nicht immer weiter zu perpetuieren.« (Soll heißen: den Staat möglichst in seiner Entwicklung zu stören, zu hemmen.) Dies verkündete sie am 24. März dieses Jahres in einer Rede vor der Katholischen Akademie. Und weiter: »Erst mit der deutschen Einheit und der Freiheit fiel die Entschuldigung weg. Plötzlich musste man sehen, dass nicht jeder, auch wenn man in der DDR Physiker war, plötzlich den Nobelpreis bekommen hat, obwohl wir alle besser waren, als wir sein konnten.« Verwirrend. Was will sie uns damit sagen?

Erst mit der deutschen Einheit konnten alle zeigen, was in ihnen steckt? Die Eliten der DDR in Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung, Kunst und Kultur waren mehrheitlich »abgewickelt«. Mit der Vereinigung bekamen Millionen Menschen die Freiheit geschenkt, überhaupt nichts mehr tun zu dürfen. Immerhin weiß Frau Merkel, dass jedoch selbst in ihrer Unfreiheit in der DDR die Menschen »doch im Kleinen immer wieder versucht haben, an ihre Grenzen zu gehen, um sich zu verwirklichen – und sei es im Kleingarten beim Um-die-Wette-Züchten von Radieschen«.

Auf einer Veranstaltung zum 20. Jahrestag der »Friedlichen Revolution« am 8. Mai räumte Frau Merkel ein, dass es in der Biografie eines jeden DDR-Bürgers auch glückliche Ereignisse gegeben hätte. »Aber das ändert nichts daran, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.« Zwar seien auch in der DDR Kinder mit viel Liebe großgezogen worden, habe es »schöne Weihnachtsfeste und sehenswerte Theaterstücke« gegeben – und doch war das System auf Unrecht gegründet Und obwohl das ganze System nur Unrecht war, seien doch »einige Dinge wie der Ehevertrag« legal gewesen. Deshalb habe auch nicht jeder neu heiraten müssen, als die Wiedervereinigung stattfand. Wieviele Kapriolen wird die Kanzlerin bei der Bewältigung ihrer DDR-Vergangenheit noch schlagen?

In der Rede am 8. Mai erfuhr man aus ihrem Munde desweiteren: »Hinter dem Schießbefehl stand nichts weiter als pure Menschenverachtung. Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, auch denen zu danken, die auf der Seite der Staatsmacht standen und im entscheidenden Augenblick nicht zur Waffe griffen, obwohl ihr Auftrag und ihr Selbstverständnis eigentlich anders aussahen.« Angehörige der Polizei oder NVA waren also allesamt Killertypen, deren Selbstverständnis das Töten war.

Bleiben wir beim Thema: Deutschland behauptet im Waffenexport den dritten Rang in der Welt. »Wie viel Tod bringen diese Exporte aus Deutschland? Hat der, der ›nur‹ exportiert, kein Blut an den Händen?« fragte unlängst Bischof Wolfgang Huber. Der von Frau Merkel vehement unterstützte Afghanistan-Krieg hat 30 deutschen Soldaten das Leben gekostet und zwischen 20 000 und 50 000 afghanischen Zivilisten (die Angaben differieren). Nach Meinung der Kanzlerin ist der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im Ausland »eine Aufgabe, die uns noch viele Jahre durch das 21. Jahrhundert begleiten wird«, wie sie zur Aushändigung des »Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit« am 6. Juli betonte. Ihr Vater, Pfarrer Horst Kasner, hatte vor Jahren den Verdacht bekundet, dass sich in den Köpfen von Politikern, Militärs und Wirtschaftsführern in der Bundesrepublik die Auffassung durchgesetzt habe, das Privileg, zu den Reichen dieser Welt zu gehören, müsse gegen den Ansturm der armen Völker auch mit militärischen Mitteln verteidigt werden. (Ansprache in der Kirche Flecken Zechlin, 4. September 1994)

Bei ihrem eingangs erwähnten Auftritt in der Katholischen Akademie hatte Angela Merkel übrigens außerdem wissen lassen: »Meine Eltern, bleiben immer meine Eltern.« Mancher Apfel fällt offenbar doch sehr weit vom Stamm.

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