Die totale Ernüchterungszelle

Deutsches Theater Berlin: »Herr Puntila und sein Knecht Matti« von Bertolt Brecht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Puntila: der besessenere Kämpfer gegen die Verhältnisse?
Puntila: der besessenere Kämpfer gegen die Verhältnisse?

Der Herr Puntila, schwarze Hose, weißes Hemd drüber, er blickt lange, sehr lange ins Publikum. Umgeben von einem Gewölk dramatisch auffahrender Musik. Hinter ihm dreht sich die Welt, die gewinkelten Wände. Angewurzelt wie einst Thalheimers Liliom, Lulu. Sein oftmaliges Inszenierungs-Entree für einsame Menschen. Der Verweis darauf, dass man so groß, so unverletzt, so unangetastet nie wieder sein würde. Standbilder und ihre bittere Erzählung: Wie erhaben (und also selbstlügnerisch) alles ist, solange man nicht zu leben beginnt.

Keine einzige Flasche. Überhaupt: kein Requisit – außer einer Kaffeetasse, die nebst Untertasse zerschmettert und deren Löffel in einem wutkomischen Anfall Puntilas zerbogen wird. Von oben eine Aquavitdusche, ein anderer Strahl fürs aufschreckende Kühl-Wasser nach dem Rausch. Zum Schluss noch ein Stuhl. Ansonsten ist die Welt Raum, der in Blicken entsteht, und Zeit, die in erstarrenden Körpern immer wieder zum Stillstand kommt. Zwei hohe Wände noch, im rechten Winkel zueinandergesetzt, innen goldmetallen, außen Sperrholz. Vom Thalia Theater Hamburg hat Michael Thalheimer Bertolt Brechts »Herr Puntila und sein Knecht Matti« nun ans Deutsche Theater Berlin gebracht (Bühne: Henrik Ahr, Musik: Bert Wrede) – ohne jeden naturalistischen Sauna-Ausschmuck, ohne die Lieder Paul Dessaus, ohne plebejischen Volkswitz und, dies vor allem: ohne jeden Anhauch einer aufklärerischen »Wer wen?«-Lektion.

Volksstück? Fehlanzeige. Nichts prall Figürliches. Theater als Zähmasse. In der Geschichte vom Gutsbesitzer, der nur im schwertrunkenen Zustand eine Seele hat, schuf Brecht eines der treffsichersten Gleichnisse für die Unvereinbarkeit von Menschlichkeit und Kapitalismus. Norman Hackers fiebrig schwitzender Puntila reißt die Augen auf für Blicke wesenloser Sehnsucht; er kennt keine Gegensätze mehr zwischen klarem und benebeltem Kopf. Wenn er sich Weiber holt, ruft er sie, als locke er Hühner. Er möchte ganz Fingerspitzengefühl für die Welt sein, die Hände sind nervöse Antennen, nur, wenn sich diese Welt wieder zum Gutshof verengt, deutet befehlendes Fingerschnipsen die Sinnesumkehr an. Wenn er seinen Knecht umarmt, ersucht er eine Gliederpuppe zu erwecken – Andreas Döhler ist der motorische, unbeteiligte matte Matti.

Thalheimers Inszenierung ist tiefernste Akklamation – zwischen Melancholie und Depression. Melancholie ist die ungewisse Atempause zwischen zwei Hoffnungen, Depression die unaufhebbare Hoffnungslosigkeit. Man kann darin, in diesem kalten, freilich anstrengend zäh dahinfließenden Porträt einer psychischen Schwankung die totale Aufhebung des Sozialen sehen und Brechtianer darob womöglich aufheulen hören – es ist da aber ein moderner Kern des Sozialen sichtbar: Thalheimers, Hackers Puntila ist der erschöpfte, ins Glück der Selbstaufgabe desertierende Leistungsethiker. Er kämpft gleichsam energischer gegen die Verhältnisse als sein proletarisch unrasierter Gegenpart Matti, der bei Döhler mehr und mehr in die ungelenke, grobe Praxis rutscht, ein gelehriger Verwalter dieser Verhältnisse zu werden. Nicht: deren Veränderer.

Da kämpft ein Kapitalist gegen diesen Makel des Kapitalismus, nämlich den nackten, geschäftigen Interessensaustausch. Statt Ausnüchterung – Ernüchterung. Ja, die Welt, der Theaterraum – eine Ernüchterungszelle. Auch für Zuschauer (leider, wird mancher gähnen). Ohne Idee füreinander verödet der Mensch, schreit dieser öde Puntila. Besagter Fluss der Ideen ist total gesperrt; die Menschen reiben sich in müßiger Äußerlichkeit aneinander; sie blicken einander nie wirklich an, ramponierte Rampenbrüller. An die Stelle jeder Freude trat ein greinendes Missvergnügen, an die Stelle jedes Leidens eine zähe, halsstarrige Ausdauer, an die Stelle der Begeisterung für irgend etwas eine redselige Absicherungs-Plapperei. Ole Lagerpuschs Attaché: eine spindeldürre, spinnentanzende Witzfigur aus Standesetikette und Selbsterniedrigung im Dienste des guten Geschäfts. Einer Heirat.

Gegen diese Wahrheit der lebenserhaltenden Maskeraden schwitzt, tobt Puntila; schroff, aggressiv, mit flatterndem Nerv fürs Selbstmitleid. Hier ermüdet ein bürgerlicher Behauptungswille, aber es erwacht auch kein klassenkämpferischer Gegenimpuls. Die anstößigste Asozialität offenbart der Herr, indem er das Gesetz seines ökonomischen Handelns als Knechtschaft gesteht, nicht jedoch der Knecht, der Stück für Stück nur seine eigene Herrschaftsfähigkeit trainiert. Auf dem Gesindemarkt etwa, wo Arbeiter fürs Gut zu kaufen sind, da erscheint Matti bereits als der sportiv behende, appetitschmatzende Vertragstaktiker – da ist er am gelöstesten, und Döhler gibt ihm ein jungenhaft genießerisches Lächeln, das so nie wiederkehren wird: Da hat einer die Welt begriffen, und es ist für beide nicht gut.

Wenn dieser Matti die Gutstochter Eva (die komödiantische Katrin Wichmann: schwermütige Aufziehpuppe einer lieblos-strengen Erziehung, dann aber sympathisch aufgekratztes Luderchen ihrer unterdrückten Lüste) auf ihre Fähigkeit für eine proletarische Ehe- und Haushaltsführung prüft, dann ist das keine listige, fürsorgliche, solidarisch gestützte Einübung ins niedere Leben aus Entbehrung und Überforderung, sondern ein kasernenhof-brülliges, gnadenlos abstrafendes Unterschichten-Casting (»Fehler!, Fehler!, Fehler!«). Der Prolet als stumpfer, stummer Nachbeter einer hierarchischen Verlockung, die ihn zwar weiter arm hält, aber aus sozialem Grund nicht automatisch zum besseren Menschen erklärt.

Die imaginäre Besteigung des Hatelma-Berges. Puntila auf einem Stuhl. Noch einmal die Beschwörung von Schönheit, Empfindungs-Inbrunst. Eine letzte Lüge. Thalheimer inszeniert diese Szene, als fasse er noch einmal zusammen, was ihm so wichtig war. Publikumsansprache. Mut zum Text, der aus der Leere kommt und seinen Weg ohne Spannung, Leben gehen muss. (In Hamburg schien das besser aufzugehen als nun in Berlin, ein arger Zug Langatmigkeit ist eingewoben).

Puntilas Poetisieren über Finnland: Die Enge der Individualität wird mit Naturschwärmerei noch einmal übersprungen, aber gleichzeitig auch doppelt empfunden. Als Vergeblichkeit und zugleich wie eine schmerzvolle Lust. Schmerzvolle Lust? Lust auf Schlaf? Vielleicht darf man auch sagen: Sterben. Matti, ein Grauschatten hinter Puntila, drückt seinem Herrn die Augen zu. »Das Herz geht mir auf, wenn ich Ihre Wälder seh’.«

Diesem Unterhemd-Matti geht überhaupt nichts auf. Er ist das hilflose Ende dieser Geschichte. Er ist das Ende der Geschichte. Dem da wird nichts einfallen für Umstürze. Von ihm ist vielleicht noch einiges zu erwarten. Die bessere Welt nicht.

Nächste Vorstellung: 4.11.

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