S-Bahn-Chaos kostet 160 Millionen

Studie: 25 000 Fahrgäste wollen aufs Auto umsteigen / Krise dauert länger

  • Bernd Kammer
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Leidtragenden der S-Bahn-Krise: Fahrgäste und Ladeninhaber
Die Leidtragenden der S-Bahn-Krise: Fahrgäste und Ladeninhaber

Die Krise der Berliner S-Bahn dauert bereits fünf Monate an, und sie wird weitreichende Folgen haben – So will fast jeder zehnte berufstätige S-Bahn-Nutzer – etwa 60 000 Kunden – sich künftig keine Zeitkarte mehr kaufen, weitere 25 000 wollen aufs Auto umsteigen. Das ist Ergebnis einer Untersuchung des Berliner IGES Instituts, das Ende September/Anfang Oktober rund 1000 Berliner und Brandenburger befragte.

Die S-Bahn widersprach jedoch der Studie. Die jüngsten Verkaufzahlen belegten das Gegenteil, teilte das Unternehmen mit. Die Zahl der Abonnenten sei in den vergangenen Monaten gestiegen. Das bedeute, dass trotz des eingeschränkten S-Bahn-Angebots kontinuierlich Stammkunden gewonnen worden seien.

Die IGES-Forscher haben auch den Zeitverlust der berufstätigen S-Bahn-Fahrgäste ermittelt. Demnach waren diese täglich im Schnitt knapp 25 Minuten länger zwischen Wohnung und Arbeitsplatz unterwegs. Auf den Monat berechnet sind das rund neun Stunden, von Ende Juni bis Anfang Oktober kamen so mehr als 3,5 Arbeitstage zusätzliche Reisezeit zusammen. Den finanziellen Wert dieser verlorenen Freizeit bezifferte IGES – ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 66,25 Euro pro Arbeitstag vorausgesetzt – mit 235 Euro. Bezogen auf alle S-Bahn-Nutzer wären das insgesamt 158,8 Millionen Euro. Weitere 57 Millionen Euro kämen hinzu, so die Studie, weil auch mehr als ein Viertel der übrigen Berufstätigen, die die BVG oder das Auto nutzten, durch das S-Bahn-Chaos im Stau steckten oder Umwege in Kauf nehmen mussten.

Knapp die Hälfte der bisherigen S-Bahn-Fahrgäste ist während der Krise auf andere Verkehrsmittel umgestiegen, davon fast jeder zehnte aufs Auto. »Der dadurch erhöhte CO2-Ausstoß hat die Einsparungen zunichte gemacht, die Berliner und Brandenburger zuvor durch den Kauf von neuen, sparsameren Autos im vergangenen halben Jahr erreicht haben«, so IGES-Chef Bertram Häussler.

Unzufrieden sind die S-Bahn-Kunden mit dem Entschädigungsprogramm der S-Bahn, das für Stammkunden freie Fahrt im Dezember vorsieht. Drei Viertel halten dies für zu wenig und fordern bis zu drei Monate Gratis-Fahrt. Knapp die Hälfte würde nicht nur Jahreskartenbesitzern, sondern auch allen anderen S-Bahn-Nutzern einen Monat lang einen vergünstigten Tarif gewähren. Häusler hält dies für moderat. »Die Studie zeigt, dass die Menschen den erlebten Schaden kompensiert sehen möchten. Die Mehrzahl fordert Entschädigungen im Gegenwert des Preises von zwei bis drei Monatskarten und bleibt damit unter dem finanziellen Gegenwert des erlittenen Zeitverlustes, der bei etwa vier Monaten liegt.«

Weitere Folgen der Zugausfälle sind Nachteile für die lokale Wirtschaft. Sechs Prozent der bei der IGES-Studie Befragten gaben an, während der Krise verstärkt im Internet eingekauft zu haben. Jeder Dritte hat Einkäufe aufgeschoben. Eine IHK-Umfrage unter Einzelhändlern, Gastronomen und Hoteliers in Nähe von S-Bahnhöfen ergab, dass in der schlimmsten Phase der S-Bahn-Krise jedes fünfte der befragten Unternehmen Umsatzeinbußen von mehr als 30 Prozent hinnehmen musste.

Hans-Werner-Franz, Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, nannte die Auswirkung der Krise »verheerend«. Jeder Fahrgast, der aufs Auto umsteigt, gehe dem öffentlichen Nahverkehr zunächst verloren. Er könne nur zurückgewonnen werden, wenn die S-Bahn anhaltend hohe Qualität liefert

Davon ist sie noch weit entfernt. Derzeit erbringt sie laut Franz erst 70 Prozent der vereinbarten Leistung, statt der erforderlichen 550 Viertelzüge sind nur 384 im Einsatz, der Rest steht in Werkstätten. Ab Montag sollen 23 Viertelzüge hinzukommen, die hauptsächlich auf der S 5 zwischen Strausberg-Nord und Olympiastadion eingesetzt werden. Trotzdem Stecke man noch »voll in der Krise«, so Franz.

  • Das Chaos bei der S-Bahn dauert wahrscheinlich noch über Mitte Dezember hinaus an. Das habe die Deutsche Bahn angekündigt, teilte gestern Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) im Abgeordnetenhaus mit.
  • Bisher wollte die S-Bahn den vollen Betrieb am 13. Dezember wieder aufnehmen. Dies könne sie nicht mehr zusichern, so die Senatorin.
  • Wegen des stark eingeschränkten Betriebs hat Berlin seine Zuschüsse an das Unternehmen für August bis November um 31 Millionen Euro gekürzt. Bis Jahresende werde sich dieser Betrag »leider noch erhöhen«, sagte Junge-Reyer.
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