Stockholm wählte das kleinere Übel

Schweden im Fadenkreuz – eine neue Studie von Wolfgang Wilhelmus

  • Jan Peters
  • Lesedauer: 4 Min.
Willy-Brandt-Park in Stockholm
Willy-Brandt-Park in Stockholm

Gründliche Quellen- und Literaturrecherchen und sparsame politische Kommentare, das sind die Markenzeichen dieser soliden Arbeit. Als Spezialist für die traditionelle Orientierung auf Nordeuropa unter Greifswalder Historikern kennt Wolfgang Wilhelmus alle wichtigen Archivbestände. Er wendet sich »an einen breiteren Interessentenkreis«, verzichtet dabei auf brillierendes Spezialistentum und möchte »die Hauptlinien der deutsch-schwedischen Beziehungen eines längeren Zeitraums übersichtlich« darlegen. Und das gelingt ihm richtig gut.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Regierungen in Stockholm und Berlin eher auf friedlichen Austausch und vielfältige Kultur- und Wissenschaftskontakte bedacht: schwedische humanitäre Hilfe für deutsche Kriegsgefangene in Russland (den Namen Elsa Brändströms kannten damals viele) und gemeinsamer Rügendammbau für besseren Handelsverkehr (tiefe historische Wurzeln des traditionellen Wirtschaftsaustauschs). Deutsche und schwedische Nationalisten fanden in den 20er Jahren nur wenige Sympathisanten. Das Nachkriegsengagement des schwedischen Roten Kreuzes legte man in Deutschland allerdings bald zu den Akten. Und die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit begünstigte den Stärkeren, also Deutschland. Als dann die faschistische deutsche Führung dem Krieg zusteuerte, bezog sie das hochwertige schwedische Eisenerz im Austausch gegen Kohle (Wirtschaftsabkommen 1940) und trieb Schweden nach dem Kriegsausbruch und der Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940 (Einkreisung und Isolierung Schwedens von seinen westlichen Partnern) in eine heikle Zwangslage. Fast bis zum Kriegsende erhielt Deutschland die dringend benötigten Eisenerze und Kugellager aus Schweden.

Ideologische Infiltration, Unterstützung der kleinen schwedischen Naziorganisationen, Erpressen, Hinhalten, Tarnen, Ausspähen, Überwachen, Bevormunden und Drohen, das alles gehörte zur Strategie des Führerhauptquartiers gegenüber dem »nordgermanischen Bruder«. Halbwegs höfliche Diplomatie existierte nur so lange, wie die Forderungen des Hitlerregimes von der sozialdemokratisch dominierten Sammlungsregierung wenigstens halbwegs erfüllt wurden. Berlin wollte die Ostseeherrschaft – und damit die wirtschaftliche und politische Absicherung der Nordeuropaflanke. Als ideologische Motivation diente des Führers »gigantischer Kampf«, um »Europa vor der bolschewistischen Gefahr ein und für allemal zu erretten«. Mit den deutschen Blitzkriegssiegen, dem im Sommer 1940 erzwungenen Transitabkommen und dem nachfolgenden praktisch unbegrenzten deutschen Militärtransit durch Schweden ab Sommer 1940, schließlich dann mit dem Überfall auf die Sowjetunion, schlossen sich manche schwedischen Offiziere der SS-Standarte »Nordland« an, lagen sich bei Besuchen in Deutschland gegenseitig in den germanischen Armen und ließen ihre historischen Heldenkönige hochleben.

In dieser schweren Zeit konnten Spione der deutschen Militärabwehr und zunehmend des Reichssicherheitshauptamtes ziemlich mühelos ihre Überwachungs- und Horchposten in Schweden ausbauen. Die Gefahr einer deutschen Besetzung Schwedens blieb lange bestehen und war in den Herbstmonaten 1942 besonders spürbar. Der Transit einer ausgerüsteten deutschen Division an die gegen die UdSSR im Norden errichteten Front bildete zweifelsfrei eine Verletzung des neutralen Status' des Landes. Allerdings: »Aus schwedischer Sicht ergab sich als Alternative ein Nachgeben oder eine mögliche deutsche Besetzung. Die schwedische Regierung wählte das kleinere Übel und gab nach, um dem Land den Frieden zu bewahren.« Sie hatte sich schon 1940 bemüht, »eine politische Linie zu finden, die in der noch unklaren Kriegssituation den Weg in beiden Richtungen offen hielt« und befolgte in den dramatischen Monaten vor Stalingrad »eine pragmatische Politik der Friedenssicherung«. Diese blieb im Land umstritten. Das entschiedene Drängen der schwedischen Antifaschisten auf eine klarere Frontstellung gegen die deutschen Drohungen war aber nicht unproblematisch, denn es brachte auch die Hitlergegner aus vielen Ländern, darunter Willy Brandt, die in Schweden Zuflucht gefunden hatten, durch die Möglichkeit eines deutschen Einmarsches in Gefahr.

Hier wird für die historische Forschung manches noch zu vertiefen sein, etwa der Kampf der Arbeiterparteien, Gewerkschaften und bürgerlichen Liberalen gegen die Deportationen jüdischer Flüchtlinge oder die Verhaftung von Widerstandskämpfern aus Norwegen und Dänemark. Als sich gegen Kriegsende der Wind gewendet hatte, verwandelte sich Stockholm in ein »Fenster« für Friedenssondierungen verschiedenster Art – von deutschen Widerständlern, Diplomaten, Politikern und selbst der SS-Führung um Himmler (letztere, um ihre eigene Haut zu retten). Zu dem erinnerungswürdigen Erbe dieser dramatischen Jahre gehören die Aufnahme zehntausender Antifaschisten und Juden aus Deutschland, Österreich und den nordeuropäischen Ländern, auch die bekannten »weißen Busse«, mit denen vom schwedischen Roten Kreuz in den letzten Kriegswochen fast 20 000 Häftlinge aus deutschen KZ gerettet wurden. Nicht zuletzt auch die gefährlichen Kurierdienste des Kraftfahrers bei der schwedischen Gesandtschaft in Berlin, Arvid Lundgren, für die in der deutschen Illegalität wirkende Bewegung »Freies Deutschland«.

Ein spannendes und nachdenkenswertes Buch.

Wolfgang Wilhelmus: Schweden im Fadenkreuz. Deutsch-schwedische Beziehungen 1918-1945. Ingo Koch Verlag. 440 S., geb., 44,50 €.

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