Raus aus dem Schuldturm

Wer tief in der Kreide steht, kann seit zehn Jahren Privatinsolvenz beantragen

  • Andreas Heinz
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Schulden türmen sich, die finanzielle Situation erscheint aussichtslos, die Schuldenspirale dreht sich, wegen der Sorgen darum können psychische und physische Probleme auftreten und auf Dauer krank machen. Seit zehn Jahren wird Privatleuten Hilfe angeboten, um einen Weg aus dem Schuldturm zu finden: das Verbraucherinsolvenzverfahren. Gestern zog die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin Bilanz.

2071 Berliner beantragten im ersten Halbjahr 2009 Verbraucherinsolvenzen, stellte dabei das Statistische Landesamt fest. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum waren das 281 überschuldete Menschen weniger. Bei den Forderungen gab es einen Rückgang von 22,5 Prozent. Die durchschnittlichen Schulden je Verbraucher der Klienten in den Schuldnerberatungen lagen laut LAG bei über 32 000 Euro. Die Bezirke mit den meisten Verbraucherinsolvenzen waren Marzahn-Hellersdorf (238 Verfahren), Neukölln (234) und Lichtenberg (227), hatte das Statistische Landesamt festgestellt. Im ersten Halbjahr 2009 verzeichneten die Berliner Amtsgerichte 9568 Verbraucherinsolvenzen. In den ersten sechs Monaten des Vorjahres waren 48 420 Privatinsolvenzen gezählt worden.

In einem Kurzfilm der LAG schildern Betroffene, wie sie finanziell immer weiter abrutschten und schließlich Insolvenz beantragten. Eine Frau geriet durch einen Schicksalsschlag in eine tiefe Krise und begann wahllos über Internet und Kataloge zu kaufen. Zum Schluss wusste sie nicht mehr, was sie zuerst bezahlen sollte. Eine etwa 30-Jährige machte sich selbstständig und verlor die Kontrolle über ihre Geschäfte. Die Folge: Zwei Jahre psychische Probleme, schließlich ein Nervenzusammenbruch. Dann endlich ging sie zur Schuldnerberatung. Ein heute etwa 50-Jähriger überschuldete sich ebenfalls durch Selbstständigkeit. Der Mann eröffnete einen Imbiss ohne kaufmännisches Wissen. Eine Frau Mitte 40 wurde von ihrem Freund über den Tisch gezogen. Der völlig verschuldete Mann überschrieb ihr sein Zoogeschäft, dann ließ er sie sitzen.

»Wir wollten die Probleme von überschuldeten Menschen visualisieren«, erklärte Schuldnerberaterin Susanne Wilkening vom AWO-Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg. Überschuldung kann jeden treffen, stellten die Berater fest. 50,9 Prozent der Klienten sind danach zwischen 30 und 49 Jahre alt. Die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen umfasste 18,3 Prozent, die der 50- bis 59-Jährigen 19,2 Prozent. Unter den Ratsuchenden finden sich Vertreter aller Berufsgruppen. 58 Prozent hatten einen Berufsabschluss, 3,3 Prozent einen Hochschulabschluss, 33,7 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Ex-Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) meinte gestern während einer Diskussion zum Thema Privatinsolvenz: »Mit ihrem Engagement leisten die Mitarbeiter der Beratungsstellen einen wichtigen Beitrag. Ein Schuldner, der mit Hilfe von Beratung wirtschaftlich wieder auf den grünen Zweig kommt, erspart dem Staat Folgekosten, etwa in Form der Sozialhilfe.« Allein im Land Berlin führe jeder in die Schuldnerberatung investierte Euro zu einer Einsparung von rund zwei Euro im Landeshaushalt.

Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin, Genter Str. 53, Wedding, Tel. 4 53 00 11-7, -8

www.schuldnerberatung-berlin.de


  • Der erste Schritt auf dem Weg zu einer Schuldenbereinigung führt zu einer Beratungsstelle.
  • Das Verbraucherinsolvenzverfahren ist mehrstufig. Die erste Stufe bildet zwingend ein außergerichtliches Verfahren, in dem der Schuldner versuchen muss, eine Einigung mit seinen Gläubigern über eine Schuldenbereinigung zu erreichen.
  • Kommt eine außergerichtliche Einigung nicht zustande, schließt sich das gerichtliche Verfahren an, das sich wiederum in zwei Abschnitte gliedert.
  • Im ersten Abschnitt kann das Gericht nochmals versuchen, eine gütliche Einigung zwischen Gläubigern und Schuldner zu erreichen. Gelingt das nicht, folgt das gerichtliche Insolvenzverfahren in Form des Verbraucherinsolvenzverfahrens.
  • Nach Abschluss dieses Verfahrens folgt die Wohlverhaltensphase, die sechs Jahre nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens endet. Der Schuldner muss in dieser Zeit den pfändbaren Teil seines Einkommens an einen Treuhänder abtreten, der dieses Geld an die Gläubiger verteilt. Seit 2001 gibt es auch eine Restschuldbefreiung für völlig mittellose Menschen.
  • Nach Ablauf der Wohlverhaltensphase erlässt das Gericht auf Antrag die restlichen Schulden.

Quelle: Bundesjustizministerium

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