»Dear Fred, Prost Neujahr!«

Wie Karl Marx das neue Jahr begrüßte – mit Bilanzen seiner Arbeit und einem Blick nach vorn

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 10 Min.

Der Jahreswechsel – für die Abtrünnigen des Heilands eine andersartig heilige Zeit. Weil sie weniger an Gottes Gnade glauben als vielmehr an die Tatkraft selbstbestimmten Handelns. Wer dem Eiapopeia der Alltagsvergessenheit nichts abgewinnt, der zieht bei allem Frohsinn Bilanz. Was wurde erreicht? Was wird, was soll das neue Jahr unter gegebenen Umständen bringen? Und mancher verinnerlicht den Wechsel in einem eigenen, sehr individuellen Ritus. Karl Marx hat gern um den 1. Januar herum mit vertrauten Personen korrespondiert.

»Dear Fred, Prost Neujahr!« schreibt er 1868 an Friedrich Engels in Manchester. Es ist bereits der 3. Januar. Marx geht es nicht gut. Seit Monaten plagen ihn die mysteriösen, viel erwähnten, zu allerlei Versagens-Spekulationen Anlass gebenden Karbunkel. Es waren weder Karbunkel noch Furunkel. Vor wenigen Jahren hat der britische Dermatologe Sum Shutter die quälenden Eiterbeutel als eine auch derzeit schwer heilbare Hautkrankheit namens Acne inversa diagnostiziert. Marx war »lang' krummliegend«, »im Kopf noch wacklig«, wie er dem Freund mitteilt. Die mit Arsenik- und alkoholgetränkten Verbänden nur wenig besänftigten Geschwüre sollten seinen Gestaltungsraum bis zum Sommer des Jahres einschränken.

Der Weltmarkt wird Realität

Dabei war das Jahr 1868 so unerhört wichtig. Die »zweite Schöpfung« (Klaus Herding) – der Mensch im Industriezeitalter – ist in vollem Gange. Die Lohnarbeit hatte sich, wie von Marx vorausgesagt, zu einer allgegenwärtigen Form der Existenzgewährung ausgebreitet. Die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital hatten sich zugespitzt, in den Ländern wie international; der »Weltmarkt« begann, Realität zu werden. Nach der Friedhofsruhe des nachrevolutionären Biedermeier radikalisierte sich die Opposition wieder. In Großbritannien erstarkte die Gewerkschaftsbewegung. Anglizismen wie »strike«, »meeting«, »trade union«, »standard of life« wurden zu Signalworten in den europäischen Sprachen. Für die nächsten Monate deuteten sich harte, vielleicht gar gewaltsame Emanzipationskämpfe an.

Darauf galt es die erste Internationale Arbeiterassoziation, die IAA, vorzubereiten. Unruhe trieb Marx um, als er Engels zu Neujahr gratulierte und sogleich auf den Londoner Deutschen Arbeiterbildungsverein und »unsere Tätigkeit« zu sprechen kam. Letztere spielte auf die Bemühungen an, dem ersten Band des »Kapital« durch lancierte Rezensionen einen ersprießlichen Absatz zu sichern, was alles in allem nicht gelang.

Der Arbeiterbildungsverein war ein Sammelbecken deutscher Emigranten, die einst dem Bund der Kommunisten angehörten oder nahestanden. Die beflissenen, unter Londoner »Dissenters« geachteten deutschen Demokraten hatten Marx im Jahre 1864 zur Gründungsversammlung der Ersten Internationale in die St. Martin’s Hall delegiert, deren Geburtsurkunde, die berühmte »Inauguraladresse«, er dann ausarbeitete.

Die Beharrlichkeit, mit der Marx trotz des Leidens während der Wintermonate in der politischen Aktion zu bleiben versucht, hat etwas Rührendes, ja, Bewundernswertes. Auch die Gegenstände seiner wissenschaftlichen Studien verliert er im Neujahrsbrief nicht aus dem Blick, wünscht von Schorlemmer zu wissen, welches das beste Buch über Agrikulturchemie sei, erkundigt sich nach Liebigs Bodenerschöpfungstheorie – geistige Landnahme für die Analyse der Grundrente; die Genossen drängen ihn und er drängt sich selber, die »Kritik der politischen Ökonomie« voranzubringen.

Aber aktuell brennt ihm das Schicksal der Internationale auf den Nägeln. Im Brief vom 8. Januar – es ist schon das zweite Schreiben, das Marx an diesem Tag an Friedrich Engels richtet – geht er auf Hausdurchsuchungen der französischen Polizei ein, auf beschlagnahmte Dokumente, die als Vorwand dienen, die IAA-Sektion in Paris zu verbieten. Bonapartes Kanzlei schmiedet ein Komplott gegen die Londoner Zentrale, die der Verschwörung gegen die britische Regierung bezichtigt wird, weil sie die irischen Freiheitsbestrebungen unterstützt. Es kommt zu Verhaftungen und Prozessen. Auch Repressalien gegen die schweizer und die belgische Sektion gilt es abzuwehren.

Im belgischen Kohlerevier werden streikende Arbeiter erschossen. Die Internationale hilft den Familien der Gefallenen und Verwundeten mit Geldern und Rechtsbeistand. Zu einer beeindruckenden Solidarität über Ländergrenzen hinweg finden deutsche Arbeiter während des Streiks von 3000 Bauarbeitern in Genf; der Arbeitstag wird auf elf Stunden gekürzt, die Löhne werden um zehn Prozent erhöht.

Marx verfolgt und kommentiert diese Ereignisse in Briefen, aber an den Beratungen des Generalrats der Internationale kann er in der ersten Jahreshälfte 1868 nicht teilnehmen. Trotzdem hat er Einfluss auf die Debatten. Und zwar mittels Georg Eccarius, eines Kampfgefährten, dessen Persönlichkeit in der marxistischen Rezeption immer noch zu wenig gewürdigt wird. Die Forderung, eine europäische Statistik der Arbeiter und Arbeitsbedingungen zu erstellen, ist wahrscheinlich als Programmpunkt für den Brüsseler Kongress der Internationale von Marx formuliert und von Eccarius eingebracht worden. Der jüngste Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Nummer 21 in der Abteilung I (Werke, Artikel, Entwürfe), bringt zum ersten Mal die Aufzeichnungen aller Reden und Diskussionsbeiträge, die Marx im Generalrat gehalten und Eccarius für englische und deutsche Zeitungen zusammengefasst hat.

Ab Juni besucht Marx wieder regelmäßig die Zusammenkünfte. Fast jede Woche, dienstags, oft samtags noch einmal, begibt er sich ins Büro des Generalrats. Kaum ein Treffen, auf dem der »Bürger Marx«, wie es in den Protokollen heißt, nicht mehrmals das Wort ergreift. Er wird beauftragt, Resolutionen und Zirkulare zu schreiben.

Bestverleumdeter Schriftsteller

Die Jahre seiner Tätigkeit für die Internationale Arbeiterassoziation umfassen jene Lebensphase, in der er unmittelbar als Politiker agiert. Die Protokolle der Meetings – auch erstmals vollständig in einer deutschen Edition dargeboten – sind Zeugnisse seines mentalen und politisch-organisatorischen Wirkens, wie es sich allein aus den Schriften nicht erschließt.

Diese Dokumente, eine Fundgrube der Sozial- und Zeitgeschichte, wurden in der deutschen Rezeption von Marx bisher kaum wahrgenommen, sicher auch deshalb, weil sie, von wenigen Auszügen in den Marx-Engels-Werken abgesehen, noch nicht übersetzt worden sind. Sie führen uns vor, wie diskret, in britisch-demokratischer Manier unter bevollmächtigten Frauen und Männern ähnlicher Gesinnung (es gab im Generalrat ab 1867 nur eine Frau, die Lehrerin Harriet Law), Marx seine Ansichten einzubringen verstand.

Er ist nicht der eisenharte Schmied der Arbeiterpartei, der kompromisslose Agitator, als der er uns in realsozialistischer Absicht hingestellt wurde. Er hat sich in der zweiten Reihe gehalten, hat es abgelehnt, den Vorsitz im Generalrat zu übernehmen. Und war doch »the most noticeable (der bemerkenswerteste) man in the Company«, wie ein englischer Journalist schrieb. Sein Auftreten ist in der Sache zwar bestimmt, im Ton aber durchaus verbindlich. Geschickt vesteht er es, die internen Differenzen zwischen den einzelnen Strömungen (Owenisten, Proudhonisten, Tradeunionisten, Lassalleaner) auszugleichen.

Mit dem Band I/21 der MEGA erkennen wir ein Profil des »Bestverleumdeten deutschen Schriftstellers« (Engels), das bisher nur verschwommen, ein bisschen verzerrt überliefert wurde. Die nun in akribischer Recherche zusammengestellten Erläuterungen und Entstehungsgeschichten der Texte erhellen viele bisher unsichtbare Hintergründe.

Wir sind jetzt im Stadium des Kampfes

Alle Aufmerksamkeit von Marx gilt der solidarischen Vereinigung der Arbeiter. Zunächst in den einzelnen Ländern, weshalb die Korrespondierenden Sekretäre der IAA zu intensivem Informationsaustausch angehalten wurden. Marx waren die Kontakte nach Deutschland anvertraut, später auch zur deutschen Sektion in den USA und zu Russland (in französischer Sprache). Aber: »Selbst ihre (der Arbeiterklasse, G.L.) nationale Organisation scheitert leicht an dem Mangel ihrer Organisation jenseits der Landesgrenzen, da alle Länder auf dem Weltmarkt konkurrieren und einander daher wechselseitig beeinflussen. Nur ein internationales Band der Arbeiterklasse kann ihren definitiven Sieg sichern«, schreibt er im Bericht des Generalrats an den Brüsseler Kongress 1868. Der Keim der Globalisierung ist schon aufgegangen.

Die große Bilanz der Assoziation findet jeweils im September statt, wenn sich die Ländervertreter zu ihrem Kongress versammeln. Marx wird gebeten, für Brüssel die Zeit seit dem Kongress in Lausanne zu resümieren. Er beginnt damit, dass die Internationale Arbeiterassoziation »nach einer Periode ruhigen Fortschritts« mächtig genug wurde, »um bittre Denunziation von Seiten der herrschenden Klassen und Regierungsverfolgungen hervorzurufen. Sie trat ins Stadium des Kampfes.«

Sehr detailliert geht er auf die Streikkämpfe ein. Eine historische Novität. Sie brechen spontan aus. Einerseits fördern sie die Bindung der Arbeiter an die Internationale, andererseits verleiten sie die Unternehmer, die IAA für alles Mögliche verantwortlich zu machen. Die »Privat-Despoten«, heißt es im Bericht, verlangen den Austritt der organisierten Arbeiter aus der Internationale (oder, wie in England, aus den Gewerkschaften) als Vor-

aussetzung jeglichen Kompromisses, als Voraussetzung selbst für eine fortdauernde Beschäftigung. Auf einen Nenner gebracht, schildert Marx Praktiken des Marktradikalismus, die manchem heutigen Zeitgenossen nicht so fremd sein dürften. Überhaupt lesen sich die alten Texte stellenweise wie eine Analogie, wenn auch mit anderem Vokabular geschrieben.

Am 1. Januar 1869 folgt dem »Happy new year!« an Dear Fred das Geständnis eigenen Glücksgefühls. Er ist zum ersten Mal Großvater geworden; in Paris hat Tochter Laura, verheiratete Lafargue, den kleinen Charles Etienne geboren. Nicht mit der »Würde des Großvaters« schimpft er dann auf die »verdammten Kerle« in Basel, »ich meine unsere Führer da drüben«, also Genossen der Arbeiterassoziation. In Basel streikten zu dieser Zeit die Bandwirker und Färber. Die dortige Sektion der Internationale hatte in ziemlich bissiger Weise den Generalrat in London aufgefordert, »in kürzester Frist« Geld zu schicken, ohne über den Hergang des Arbeitskampfes zu informieren. »Wir können uns doch nicht der Antwort der Basler Wucherer aussetzen, daß wir ohne alle Sachkenntnis in die Welt schreien«, erregt sich Marx.

Krieg liegt in der Luft

Am 5. Januar gibt er, wie aus dem Protokollbuch zu ersehen, zunächst einen Bericht des Subkomitees der Länderkorrespondenten, dem er angehört. Es hatte am 2. Januar über Lohnsenkungen in der französischen Baumwollindustrie beraten, die das Ziel verfolgten, die englischen Marktpreise zu unterbieten. (Kommt uns das nicht bekannt vor?) Auch der Fall Basel wird beprochen. Der Vorstand beschließt, der schweizer Sektion einen »Rüffel zu erteilen«, weil sie nicht »das nötige Material«, d. h. keine Fakten mitgeteilt habe.

Die Episode zeigt einmal mehr, welchen Wert Marx auf eine genaue Darstellung der Sachverhalte gelegt hat. Es genügt nicht, allgemeine Losungen in die Welt zu posaunen und Forderungen zu stellen. Im seinem zweiten Bericht des Generalrats, 1869 an den IV. Jahreskongress der Internationale, geht er noch einmal auf die Vorgänge in Basel ein. Es ist frappierend, wie präzise, auf Tag und Stunde genau, Marx den Ablauf der Proteste rekapituliert. Wie an anderen Beispielen hebt er die Solidarität der nicht ausgesperrten Arbeiter hervor, die – »Alle oder keiner« – auch die Maschinen verlassen, um ihre geprellten Kollegen zu unterstützen. Die Sektionen der Internationale sammelten für die Streikenden 12 000 Schweizer Franken. Was die Mär von der großen Schatztruhe der IAA in Umlauf brachte.

Nach dem Lohnkampf in der Borinage veranlasste die belgische Polizei eine Durchsuchung in London. Marx ironisch: »Schließlich schmeichelte sich die belgische Polizei, das Schatzgespenst gepackt zu haben ... Der offizielle Forscher wähnte es versteckt in einer eisernen Kiste in einem finsteren Winkel. Seine Schergen stürzen auf die Kiste los, erbrechen sie gewaltsam und finden – ein paar Stücke Kohle.« Die Internationale und Marx selber, wie wir wissen, waren in ständiger Geldnot; mehrmals musste das Versammlungsbüro gekündigt werden, weil die Miete nicht bezahlen werden konnte.

Marx spricht im Bericht von einem »internationalen Industriekrieg, geführt durch Niederschrauben des Arbeitslohns bald in diesem Land, bald in jenem«. Vor daher leitet er die Notwendigkeit einer eigenen Außenpolitik der Arbeiterklasse ab. Und aus der anderen Bedrohung: Krieg liegt in der Luft. Die Entwicklung Preußens zur Großmacht provozierte Bonaparte zum selbst- und völkermörderischen Waffengerassel. Zum Jahresende glauben Marx und Engels: Kriegsgefahr gebannt.

Im Juni fallen die Soldaten Frankreichs und Deutschlands übereinander her. Zumindest in dieser Hinsicht muss sich Marx gesagt haben, dass Geschichte nicht voraussagbar ist. Er verfasst zwei Adressen über den Deutsch-Französischen Krieg, die in dem erwähnten MEGA-Band hervorragend kommentiert werden. Darin der Satz: »Es ist mit Nationen wie mit einzelnen. Um ihnen die Möglichkeit des Angriffs zu entziehen, muß man sie aller Verteidigungsmittel berauben.« Was für ein schöner Neujahrswunsch.

Marx/ Engels: Werke, Artikel, Entwürfe September 1867-März 1871. Bd. I/21 der Marx-Engels-Gesamtausgabe, bearb. von Jürgen Herres unter Mitwirkung von Rosemarie Giese, Richard Sperl, Detlev Mares. Akademie-Verlag Berlin, 2 Bände, 1093 Seiten, 278 €.

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