Kleine Erdbeeren sind die leckersten

Glück auf! Ab Freitag ist RUHR.2010 europäische Kulturhauptstadt

  • Lutz Debus
  • Lesedauer: 4 Min.

Kaum sind die Reste der Silvesterböller beseitigt, wird auch schon ein neues Feuerwerk in Stellung gebracht. Am Samstag beginnt das Kulturhauptstadtjahr mit einer zweitägigen Party auf der historischen Zeche Zollverein in Essen. Durch die Live-Übertragung des feierlichen Festaktes im ZDF erfährt die Fernsehnation, dass Deutschland in diesem Jahr gleich zwei Hauptstädte hat: Berlin und – Ruhr.

Einige Einschränkungen müssen allerdings erwähnt werden. Ruhr ist keine Stadt, sondern ein sprachliches Kunstprodukt, das 53 Städte bezeichnen will. Diese ehemalige Industrielandschaft ist zudem keine politische, sondern eine Kulturhauptstadt, und zwar eine europäische. Den Titel teilt sie sich ein Jahr lang mit Pécs in Ungarn und Istanbul. Um auf all das aufmerksam zu machen, schreibt sich die künstliche Stadt neudeutsch mit großen Buchstaben und fügt einen Punkt und die entsprechende Jahreszahl hinzu: RUHR.2010.

Begonnen hat die Geschichte vor über vier Jahren. In der Chefetage des WAZ-Konzerns, so erzählen sich Insider, grübelte man über auflagenstärkende Maßnahmen und kam auf die Idee. »Was für die Region gut ist, ist auch gut für uns«, konterte im Interview Stefan Zowislo von der WAZ-Mediengruppe die Frage nach der Urheberschaft der Bewerbung. Die traditionell guten Beziehungen zwischen dem Medienriesen und den Kommunalpolitikern ermöglichte eine rasche Umsetzung der Bewerbung. Andere Städte wie Bremen, Potsdam, Regensburg und Köln wollten zwar auch Kulturhauptstadt werden, konnten aber nicht überzeugen. Am 13. November 2006 wurde die Entscheidung der Jury in Essen gefeiert. Görlitz als einziger verbleibender Mitbewerber unterlag.

Die Verantwortlichen von RUHR.2010 setzten auf drei Themen: Strukturwandel, Multikultur und Metropole als dezentrales Ensemble. Früh besann sich Essen und holte die umliegenden Städte mit ins Boot. Das Ruhrgebiet verfügt zwar über keine politische Struktur wie eine Großstadt mit Bürgermeister und Stadtrat. Versuche, eine solche zu etablieren, sind bislang am Widerstand der Verwaltungen gescheitert. Kein Bürgermeister von Bochum, Duisburg oder Dortmund wollte zum Leiter des Grünflächenamtes einer zu gründenden Ruhrstadt degradiert werden. Aber die 5 Millionen Menschen, die im Ruhrgebiet leben, begreifen sich zunehmend als Gemeinschaft. Der junge, dynamische Gelsenkirchener fährt zur Arbeit nach Dortmund, geht in Bochum ins Theater und anschließend in Essen zum Lieblingsitaliener. Christoph Zöpel, ehemaliger NRW-Bauminister und jetziger SPD-Linker, entwarf schon vor fünf Jahren in seinem Buch »Weltstadt Ruhr« die Skizze einer weltweit beachteten Metropole.

Das zweite große Thema, der Strukturwandel, ist an jeder Ecke im Ruhrgebiet erlebbar. In den nächsten Jahren wird die letzte heimische Steinkohle gefördert werden. Die einst die Landschaft und die Menschen prägende Montanindustrie ist fast bedeutungslos geworden und an vielen Orten inzwischen museal. Tatsächlich sind viele ehemalige Industriekathedralen zu Kulturorten umgewidmet worden. Der Gasometer in Oberhausen ist mit über 100 Metern der größte Ausstellungsraum der Welt. Die Zeche Zollverein, schon 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe erkoren, beherbergt das Ruhr Museum. In der Jahrhunderthalle in Bochum, einer ehemaligen Maschinenhalle eines Hochofens, finden Theateraufführungen und Konzerte statt. Und die alte Unionbrauerei in Dortmund wird zum »U« umgebaut. »Kreativwirtschaft«, so heißt das dazugehörige Zauberwort. Tatsächlich macht diese mit ihren Musik-, Film-, Computerspiel- und Klingeltonherstellern mittlerweile einen höheren Gewinn als die Chemieindustrie. Gern werden deshalb im Ruhrgebiet die Träume »Pop statt Pils« und »Kultur statt Kohle« geträumt.

Die örtlichen Arbeitslosenzahlen, die mecklenburg-vorpommerische Ausprägungen haben, sprechen allerdings eine andere Sprache. Auch sind inzwischen eine ganze Menge Projekte der Kulturhauptstadt dem Rotstift zum Opfer gefallen. Fritz Pleitgen, der jetzige RUHR.2010-Geschäftsführer, spricht von einer »Punktlandung mitten in der Finanzkrise«. Sponsoren sprangen ab. Sparkommissare der Landesverwaltung drehten den Kommunalpolitikern den Geldhahn zu. Das geplante Gebäude der Bochumer Symphonie ist das prominenteste Opfer der leeren Stadtkassen. Strukturwandel sieht anders aus.

Ein anders Pfund, mit dem die RUHR.2010-Verantwortlichen wuchern, ist die multikulturelle Prägung der Region. Ohne Migration gäbe es das Ruhrgebiet nicht. Ganz im Westen bei Xanten zeugen Ruinen einer alten Römerstadt von 2000 Jahre alter Erfahrung. Später kamen Vandalen, Hunnen, Franken, Polen, Franzosen, Italiener, Türken und Afrikaner. Alle standen sie schon mal an irgendeiner Ecke an irgendeiner Seltersbude herum und tranken ihr Bierchen. Im Hauptstadtjahr möchte sich dieser Mikrokosmos als Modell darstellen für ein vereintes, multikulturelles und friedfertiges Europa. Was in Bottrop oder Herne gelingt, dürfte doch in der Europäischen Union ebenfalls zu schaffen sein, so das Kalkül.

Die großen Ereignisse wie die Installation von bis zu 400 großen Heliumballons an ehemaligen Schachtanlagen im Mai, ein Chor mit 80 000 Stimmen in der Schalke-Arena im Juni und eine 60 km lange Frühstückstafel auf der A 40 im Juli sollen in ganz Europa wahrgenommen werden. Aber auch Anspruchsvolles wird geboten. Sechs Schauspielhäuser inszenieren an ihren Wirkungsstätten Homers Heldendichtung Odyssee. Das Publikum reist wie der Protagonist, allerdings mit Bahn, Bus und Schiff ausgestattet, der Handlung hinterher.

Insgesamt 300 Projekte umfasst das offizielle Programm. Die Auswahl erscheint schwer. Vielleicht verhält es sich wie mit den Erdbeeren: Die kleinsten sind die leckersten. Ein Grund mag für diese Hypothese sprechen: Die großen Veranstaltungen werden von den großen Konzernen gesponsert. Kultur von unten findet aber auch statt, manchmal trotz Kulturhauptstadtrummel.

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