Klang der Steine

Der sardische Bildhauer Pinuccio Sciola

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Ungewöhnliche Töne aus ungewöhnlichen Musikinstrumenten: Pinuccio Sciolas Skulpturen sind nichts anderes als steinerne Streich- und Zupfinstrumente.
Ungewöhnliche Töne aus ungewöhnlichen Musikinstrumenten: Pinuccio Sciolas Skulpturen sind nichts anderes als steinerne Streich- und Zupfinstrumente.

Falls sich Stonehenge, Manhattan und das Paradies je verschwistern sollten, so täten sie dies im Garten von Pinuccio Sciola. Genau genommen haben sie dies schon getan. Denn in einem malerischen Orangenhain am Rande des sardischen Örtchens San Sperate, 30 Kilometer von der Inselhauptstadt Cagliari entfernt, hat der Bildhauer Sciola übermenschengroße Steinbrocken so aufgestellt, dass sie an einen vorchristlichen Kultplatz erinnern. Zudem hat er diese Kolosse aus Basalt und Kalkstein mit der Steinsäge derart bearbeitet, dass streng geometrische Muster sie überziehen und den Eindruck erwecken, als blicke man auf das Straßenraster Manhattans. Manche Quader wiederum sind so freigestellt, dass sie an die Wolkenkratzer zwischen Hudson und East River erinnern.

Der paradiesische Anteil ist nicht nur für das Auge erfahrbar, wenn der Blick dankbar auf den mit saftigen Früchten beschwerten Orangenbäumen ruht, sondern auch für das Ohr: Immer dann nämlich, wenn Sciolas große, rissige Hände zärtlich über die aus dem Stein gearbeiteten regelmäßigen Zapfen streichen und durch die Berührung zum Klingen bringen. Sciola bittet den Besucher dann, das Ohr ganz nah an den Stein zu bringen. Ungläubig und zweifelnd folgt man der Aufforderung. Plötzlich dringen ätherische Töne in den Gehörgang. Sie sind fein moduliert. Man schließt die Augen und fühlt sich eingebettet in den Strom eines ewigen Gesangs. Hört man genauer hin, vernimmt man mal Klänge so hell und klar wie das Rauschen des Wassers, dann wieder dunkel brausend wie eine feurige Gewalt.

Sciola sagt: »Das ist der Gesang der Steine. Das ist ihre Stimme, die aus fernen Zeiten zu uns dringt.« Seine Augen leuchten, als er erzählt, dass die hellen, plätschernden Töne vom Kalkstein erzeugt werden, der nichts anderes ist als ein ausgetrockneter, komprimierter Ozean, während das feurige Rumpeln aus dem Inneren des Basalts, einem Gestein vulkanischen Ursprungs, kommt. Sciola, ein kleiner, gedrungener Mann im Alter von 67 Jahren, weist auf den Unterschied seiner Klangerzeugung zur herkömmlichen Musikproduktion mit diesem Material hin: Gewöhnlich schlage man darauf, wie beim Xylophon. Was man dann höre sei aber nicht der Gesang des Steins, sondern lediglich dessen von einer Verletzung provozierter Schrei. Nur wenn man über seine Oberfläche streiche, könne man die Stimme erlauschen. Und tatsächlich: Unter Sciolas Händen verwandeln sich die steinernen Skulpturen in Harfen, in Gitarren, in Celli. Jeder Steinquader, den seine Säge stehen lässt, hat die Funktion einer Saite. Die Kantenlänge des Quaders bestimmt – ähnlich wie die Länge der Saite, die Frequenz des Tons. Weil der sardische Bildhauer das bis in die Antike zurückreichende Wissen der Erbauer von Saiteninstrumenten nun auf auf steinerne Corpi überträgt, sind seine Skulpturen nichts anderes als steinerne Streich- und Zupfinstrumente. Die Analogie kann man sogar noch weitertreiben: Um intensivere Töne zu erzeugen, bedient er sich gelegentlich einer Art Plektrum. Dann streicht er mit einem flachen Stein statt der bloßen Hand über die Skulpturen. Und damit die Töne nicht nur einzelnen exklusiven Zuhörern, die ihr Ohr an den Stein pressen, zugänglich wird, installiert er Sensoren und gibt die so aufgenommenen Geräusche elektronisch verstärkt wieder.

Im Sommer veranstaltet er öffentliche Konzerte. Er lädt dazu Violinisten und Cellisten, Harfen- und Mandolinenspieler ein, die die Stimmen des Steins begleiten. Kräftige Scheinwerfer strahlen dann auf die Skulpturen. Sie werfen Schatten. Durch die Ritzen mancher Skulptur fällt das Licht. Und manchmal ist das Licht so stark, dass der Stein in ihm völlig verschwindet. Die schwere Materie scheint in einer Welle aufgelöst.

Die klingenden Steine sind der jüngste Höhepunkt der künstlerischen Karriere Pinuccio Sciolas, aber bei weitem nicht der einzige. Als Kind hat der Bauernsohn Figuren aus Lehm geformt. Später haben ihm Arbeiter in den nahen Steinbrüchen die schönsten Brocken zum Behauen gebracht. Auf ihre Bitte hin hat er sogar das Antlitz eines Heiligen an den Eingang des Werkes gehämmert. Nach Kunst- und Kulturstudien in halb Europa (u.a. bei Kokoschka und Marcuse) hat er sich in Mexiko mit dem Schaffen von Wandbildern auseinandergesetzt und sich mit Siqueiros befreundet. Den Mai 1968 hat er in Paris erlebt – und ist danach nach San Sperate zurückgekehrt, um dort alljährliche Wandbildwettbewerbe zu organisieren.

Inzwischen ist kaum ein Haus hier ohne künstlerische Intervention und der Bauernsohn Sciola eine Institution. Seine ureigene Arbeit hat er trotz dieser organisatorischen Tätigkeit nicht vernachlässigt. Er hat beispielsweise den Stein bluten lassen, indem er ihn mit einem Schneidbrenner rotglühend erhitzte und an der heißesten Stelle zum Schmelzen brachte. Auf der Biennale Venedig wurden seine Werke ausgestellt und auf der EXPO Hannover. Er kollaboriert mit dem Stararchitekten Renzo Piano. Neben den klingenden Steinen schafft Sciola gegenwärtig Steinsamen. Das sind rohe, unbehauene Steine, in die ein Schlitz geschlagen ist, aus dem ein blankpolierter Kern, der Same eben, herausschaut. »Aus jedem Samen wächst ein Berg«, hatte einst ein Schulkind gesagt, als es Pinuccio Sciolas Steinsamen zum ersten Mal sah. Die Bemerkung gefiel dem Künstler und nun freut er sich an der Vorstellung, dass aus jedem seiner Steinsamen ein Berg erwächst – ein Berg mit Steinen, von denen jeder seine eigene Stimme hat, ein großes, ewiges Orchester. Orpheus, der antike Klangerzeuger, hat einen späten Nachfahren auf der Mittelmeerinsel Sardinien gefunden.

www.paesemuseo.com

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal