Der Mythos Oranienstraße

Typisch Berlin-Kreuzberg: Multikulti und Parallelwelten nebeneinander

  • Sabine Halbgewachs und Ernst Reuß
  • Lesedauer: ca. 8.0 Min.
Auf den ersten Blick sind keine Besonderheiten zu erkennen - fast alle der hellerleuchteten Fenster sind mit Gardinen verhängt, die Häuserfassaden ordentlich saniert. Vielleicht werden hier etwas hemmungsloser Plakate in Hauseingängen geklebt als anderswo in der Stadt, die Schicht ist fingerdick. Bunt sind auch die Graffiti auf den Ladenrollläden - es gibt hier überhaupt auffällig viele Rollläden. Am Heinrichplatz ein Eckhaus mit zwei einsamen »Anarchie«- und »Peace«- Sprühkringeln unter der obersten Fensterfront. An Hausnummer 3 dekorativ verteilte Farbbeutelkleckse - Design oder eine erste Spur des Mythos Oranienstraße?

»Keine Macht für niemand«
Seit den frühen 70er Jahren ist die kurze Meile zwischen Oranienplatz und Görlitzer Bahnhof eine schier unendliche Projektionsfläche für alternative Träume und Lebensentwürfe. Einst wurden hier die Hugenotten aus der Orange angesiedelt. Die Straße hieß Orangenstraße und wurde später zur Oranienstraße. Bis zu den Bomben des 2. Weltkriegs war es eine große Geschäftsstraße, danach schäbigstes Westberlin im Schatten der Mauer. Billige Mieten und leerstehende Gewerberäume lockten in den 70er Jahren Künstler, Studenten und türkische Gastarbeiter. Als der Berliner Senat hier ein Autobahnkreuz plante, scheiterte das Projekt am heftigen Widerstand der Bewohner. »Keine Macht für niemand« und »Macht kaputt, was euch kaputt macht« waren die gängigen Slogans. Allein in der Oranienstraße gab es acht besetzte Häuser. Damit wurde die Straße zum Symbol für den »Widerstand gegen die Konsumgesellschaft« und gleichzeitig zum Mythos für junge, freiheitshungrige Menschen aus der westdeutschen Provinz. Die Lieder von Ton Steine Scherben wurden auf Klassenpartys mitgegrölt und mit leuchtenden Augen bei ersten Joints der Klassenkampf diskutiert. Heute flammt der Mythos während der alljährlich wiederkehrenden 1. Mai-Krawalle immer wieder auf.
»Gekämpft« hat auch Klaus Hübner. Er war von 1969 bis 1987 Polizeipräsident in Berlin. Berühmt-berüchtigt wurde er durch die Einführung von »Diskussionskommandos«. Einheiten der Polizei, die in Krisensituationen das Gespräch suchen und »die Gewalt abschöpfen« sollten. »Ja, ja, wir hatten so manchen Einsatz in der Oranienstraße. Da gab es eine Menge Wohnungen, wo Autonome ihre Spielchen mit uns gespielt haben - die konnten dort prima durch die Hinterhöfe wegflitzen.« Das Konzept der Deeskalation durch »Hübners Psychobullen« ging aber in der Oranienstraße nicht auf. »Die Hausbesetzer wollten nicht reden, nicht politisch sein - die wollten kochen, schmusen und Müsli essen«. Hübner weiß auch von einem regelrechten »Hausbesetzertourismus« in den 80er Jahren. Im Sommer seien sie eingereist, die Söhne und Töchter des westdeutschen Bürgertums, und haben die Berliner Hausbesetzer zumindest moralisch unterstützt. »Wenn es kälter wurde, waren sie schnell wieder weg.«
»Im Grunde sah es fürchterlich aus hier, es war wie ausgestorben.« So beschreibt Rainer Kruse seine ersten Jahre in der Oranienstraße. Das war Ende der 70er Jahre. Auch das Haus Nr. 45 sollte entmietet werden. »Ich war der letzte legale Mieter hier, das Vorderhaus und die Seitenflügel waren schon nicht mehr bewohnt.« Oft musste er damals Plünderer vertreiben, die die alten Holzgeländer zerlegen und als Trödel verkaufen wollten. Erst 24 Jahre später hat er seine 90 Quadratmeter große Fabriketage im Hinterhaus verlassen und ist aufs Land gezogen. Gerade mal 160 Mark Miete haben ihn über so lange Zeit an diese Adresse gebunden. »Wir hatten früher wirklich das Gefühl, die Straße gehört uns.« Jetzt sei es »zugiger« geworden. »Wenn es überhaupt so etwas wie einen Mythos hier gibt, dann ist er reichlich bemoost«, sagt Kruse.
»Selbst ein angestaubter Mythos ist einer - Marlene Dietrich macht ja auch keine Filme mehr und ist trotzdem noch ein Mythos!« Wolfgang Müller, Kunstprofessor und ehemaliger Sänger der Kreuzberger Band »Die tödliche Doris«, sitzt im Bierhimmel, einer Kneipe, die in den 80er Jahren noch als Prollkneipe tituliert wurde. Inzwischen tummelt sich hier ein buntgemischtes Publikum im hellen, sparsam designten Ambiente. Müller lebt seit 15 Jahren gleich um die Ecke und gilt als »Inventar der Oranienstraße«. »Früher ging mir die politische Ideologie der Leute hier auf die Nerven - dieser aufgeblähte Hype ist vorbei. Ich finde die Oranienstraße jetzt viel schöner als früher!«
Hinter einer mit Kerzen beleuchteten Fensterfront das Café Alibi am Oranienplatz. Alle Drinks zum halben Preis, steht auf einer grünen Schiefertafel hinter der Theke. Das Café ist eher untypisch für die Oranienstraße. Deutsche und Türken sind gleichermaßen vertreten, ansonsten bleiben sie meist streng getrennt. Ein Mann mit Hut und zwei riesigen Ohrringen. Ein Pärchen mit langen, schwarzen Ledermänteln und Basketballkappen. Die meisten sind um die 40. Die Straße und ihre Bewohner altern gemeinsam mit dem Mythos. Dazwischen junge Türken mit Goldkettchen und Schnurrbart. Aus den Fenstern des Hauses gegenüber hängt ein Plakat. »Endlich Krieg« steht darauf.
Deutsche und Türken leben in zwei der vielen »Parallelwelten«, die es hier gibt. So drückt das zumindest die Sängerin und Schriftstellerin Annette Berr aus. »Das sind zwei verschiedene Glaubenssysteme, die nicht zusammenpassen. Nur dort, wo etwas verbindet, hat es sich vermischt. Beispielsweise in der Schwulenszene.« Annette Berr ist auch Teil dieser Parallelwelt. Die von einer Zeitung als »Madonna von Kreuzberg« bezeichnete Künstlerin lebt schon seit 21 Jahren im Kiez. »Man hat nicht wirklich mit den anderen Welten zu tun. Aber man toleriert sich.« An einer Wäscheleine, die von Dach zu Dach gespannt ist, flattert mitten über der Oranienstraße ein übergroßes, weißes Bettlaken. Darauf türkischsprachige Politparolen der TKP/ML. Die Slogans sind nur an eine der Parallelwelten gerichtet. »Die Oranienstraße entsteht immer wieder aus sich selbst heraus«, meint Annette Berr zum Mythos O-Straße. Ob Ben Becker von Mitte nach Kreuzberg ziehen will, ist ihr egal. »In den hiesigen Parallelwelten gibt es für jeden Platz.«
An der Theke der Schnabelbar auch zwei amerikanische Touristinnen. Sie kichern. Touristen verirren sich manchmal im Namenswirrwarr von Oranien- und Oranienburger Straße hierher. Vor der Wende fuhren noch täglich die Reisebusse mit »Wessis« und anderen ausländischen Berlinbesuchern im Schritttempo durch die Oranienstraße. Japaner, Amerikaner, Schwaben mögen sich wohlig gegruselt haben, wenn sie tatsächlich einen grünhaarigen Punk mit erhobenem Mittelfinger vor die Fotolinse bekamen. Heute wälzen sich die Buslawinen durch die neue Mitte und Prenzlauer Berg. Anscheinend wurde der Oranienstraße der in Reiseführern verbriefte Exotenstatus aberkannt.
Ein paar Häuser weiter war früher das Maxwell, ein Lokal der schickeren Art, vor mehr als zehn Jahren hart umkämpft. Die Szene hatte Angst, dass sich hier die Schickeria festsetzen könnte. Nannten es den Kampf »Klasse gegen Klasse« und vertrieben mit Buttersäure und Jauche die Besitzer. An fast dörfliche Strukturen erinnert sich Rainer Kruse: »Es gab damals eine Abschottung nach innen und nach außen. Im Grunde war hier alles ziemlich konservativ, man blieb gerne in seinen Kiezvorurteilen hängen.« Müller, der es vom Sänger zum Professor gebracht hat, sagt: »Es gab hier auch schon immer Leute, die in Westdeutschland wahrscheinlich in der Psychiatrie gelandet wären, die haben hier ihren Platz gefunden.« Das viel beschworene Miteinander der Kulturen sieht auch er unsentimental: »In der Oranienstraße gab es echtes Multikulti: Arbeitslose, Schwule, Türken, Punks. Aber es war keine wirkliche Gemeinschaft, man lebte eigentlich nebeneinander her. Der türkische Gemüsehändler durfte zwar für so manchen den Ersatzpapi spielen, aber sonst hatte man nichts miteinander zu tun.« Ein Kerzenverkäufer mit Schildmütze, langen Haaren und wirrem Blick schaut herein, ein kurzes, mit Fistelstimme vorgetragenes »Kerzen kaufen!«, dann ist er wieder draußen. Der Mann hinter der Theke zapft lächelnd ein Bier.
Am Heinrichplatz, dem einstigen Besetzereck, gibt es seit ein paar Jahren guten Wein und Tapas im Bateau Ivre. Interieur und Speisekarte sind hier schon etwas schicker. Das Publikum ist gemischt. Ein 50-Jähriger in Lederklamotten beschimpft lautstark eine blonde Frau am Tresen. Er ist ziemlich, sie leicht betrunken. Niemand scheint sich an den ununterbrochenen Schimpftiraden zu stören.
Gegenüber gibt es die erste Sushi-Bar der O-Straße. Mama Su - Asian Power Food, angeblich ein Abschreibungsprojekt. Daneben ein amerikanischer Hot-Dog Laden. Aber auch noch viele Dönerbuden und das alteingesessene SO 36. Hier mischten in den frühen 80ern die »Einstürzenden Neubauten« und »Die tödliche Doris« die Berliner Musikszene auf. Nach wie vor ist das SO 36 angesagt. Eine lange Schlange zahlungswilliger Gäste wartet auf Einlass.
Unscheinbar gibt sich die Hausnummern 187 - Insider wissen, dass sich hinter der schmalen Tür das Roses verbirgt. Die Bar hat in Schwulen- und Lesbenkreisen Kultstatus. Alles in Rot und Plüsch, viele Plastikrosen. »Geändert hat sich eigentlich in den letzten zehn Jahren nichts. War schon immer eher ne Absturzkneipe«, erzählt die Frau hinter dem Tresen. »Die Gäste sind älter und gemütlicher geworden.« Der einzige Unterschied zu früher: »Wir sind auch älter geworden und machen manchmal schon früh um vier zu, anstatt wie früher erst um acht!«

»Klasse gegen Klasse« ist selten geworden
Es scheint fast so, als ob sich die Kämpfer von damals eingerichtet haben. Der Kampf »Klasse gegen Klasse« findet heute in der Oranienstraße nicht mehr statt, auch wenn erst vor kurzem der alte Kampfgeist wieder mal ganz flüchtig aufblitzte. Ein kommerzieller Veranstalter wollte den Mythos Oranienstraße für ein »stinknormales« Straßenfest nutzen. Der Boykott und laute Punkmusik aus geöffneten Fenstern und Kneipen erinnerten lautstark daran, dass sich die Leute aus der O-Straße nicht vermarkten lassen wollen. Man organisiert seine Feste lieber selbst. Jede »Parallelwelt« für sich. Wer will, kann daran teilhaben.
Am Görlitzer Bahnhof / Ecke Manteuffelstraße, wo einst am 1. Mai der Bolle-Supermarkt angezündet wurde, endet die mythische Meile. Die Baulücke klafft noch immer wie eine offene Wunde. Auf der Brandmauer dahinter ein vergilbtes »Revolutionsgemälde«. Man erkennt Che Guevara und andere revolutionäre Größen. Daneben die Parole »Bin ich Double You? Unzivilisierte aller Länder vereinigt Euch«. Hier hat sich der kämpferische Bezirk selbst ein Mahnmal gesetzt - zur Abschreckung oder Erinnerung? Jedenfalls einer der letzten weißen Flecken im Kiez, vielleicht ein Symbol dafür, dass es in dieser Straße trotz aller Unkenrufe noch Raum fü...

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