Konzerthaus

Tödlicher Ernst, junger Schwung

  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer eine Polytechnische Oberschule besucht hat, kennt das Stück: Schostakowitschs Leningrader Sinfonie stand in Klasse Acht auf dem DDR-Lehrplan – als tönendes Symbol des antifaschistischen Widerstands. Dmitri Schostakowitsch begann im Mai 1941 mit der Niederschrift. Als wenige Wochen später deutsche Truppen in die Sowjetunion einfielen, komponierte er im belagerten Leningrad weiter, bis er nach Kuibyschew evakuiert wurde, wo er das Werk im Dezember abschloss.

Seit einigen Jahren erleben die Orchesterwerke Schostakowitschs eine Renaissance im Konzertsaal. In Berlin konnte man im vergangenen Jahr sämtliche 15 Sinfonien beim Musikfest erleben. Am Dienstag widmete sich das Niederländische Radio Philharmonie Orchester im Konzerthaus Schostakowitschs Siebter, der »Leningrader« Sinfonie. Jaap van Zweden, Chefdirigent des Ensembles, zwang das 75-minütige Stück in einen großen Bogen, indem er die Spannungskurven der einzelnen Sätze deutlich aufbaute. Das »Invasionsthema«, das den Einmarsch der faschistischen Truppen symbolisiert, funktioniert ähnlich wie Ravels Bolero: Über monotonen Trommelwirbeln wiederholt sich das Thema stupide und automatenhaft, wobei sich das Instrumentarium immer weiter verdichtet. Unter van Zweden verwandelt sich das Orchester in eine anrollende, immer lauter grollende Lawine. Ein unheimliches Auf-der-Stelle-Treten der Musik erreicht der Dirigent, indem er die nebensächlichen Schlussnoten des Themas betont.

Mit seinem energischen, straffen Dirigat arbeitet van Zweden die markanten Brüche in diesem Stück heraus, das auf eine Weiterentwicklung von Themen verzichtet und stattdessen verschiedene Sphären übergangslos nebeneinander stellt: ländliche Folklore, Choräle, Militärklänge, grausig verzerrte Walzer und Märsche.

Heute deutet man die Leningrader Sinfonie differenzierter als das DDR-Schulbuch es tat. Musikwissenschaftler wiesen nach, dass jene »Gegenkraft«, die auf dem Höhepunkt der »Invasion« einsetzt und der stalinistischen Propaganda gemäß die Rote Armee symbolisieren sollte, ebenfalls das Material des gewalttätigen Invasionsthemas verwendet. In seinen Memoiren schrieb der Komponist später, Leningrad sei durch Stalin schon vor der Blockade zerstört gewesen.

Die Niederländische Radio Philharmonie beendet ihre Europa-Tournee heute Abend in der Kölner Philharmonie. Wie in Berlin steht dort ein weiteres Stück auf dem Programm, dass mit der Leningrader Sinfonie zunächst wenig zu tun hat: Rachmaninows Erstes Klavierkonzert, das 1891 als Opus 1 eines jugendlichen Pianisten entstand – ein Virtuosenkunststück für den Eigengebrauch. Auf den zweiten Blick lassen sich jedoch in beiden Werken charakteristische Merkmale der russischen Sinfonik entdecken: der Hang zum Monumentalen, die süffige Instrumentierung, eine lockere Form und beseelte Melodien. Die Interpretation van Zwedens machte gleichwohl deutlich, dass dieses Opus 1 spröder und moderner ist als Rachmaninows spätere Klavierkonzerte.

Der 29-jährige mazedonische Pianist Simon Trpceski spielte das hochvirtuose Stück mit atemberaubender Sicherheit. Zwar lag Rachmaninows reife, geraffte Überarbeitung von 1920 auf den Notenpulten – dennoch strahlte Trpceski jugendlichen Überschwang aus. Der Musiker verausgabte sich nicht als donnernder Tastenlöwe, sondern entwickelte ein stets transparentes Spiel.

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