Auch Jungen sexuell missbraucht

Bundesweit fehlen Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen für Jugendliche und Männer

  • Martin Höxtermann
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

Auch Jungen werden häufig Opfer sexueller Gewalt. Kürzlich bekannt gewordene Missbrauchsfälle durch katholische Amtsträger rückten diesen Fakt wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein.

Doch sexueller Missbrauch findet nicht nur in katholischen Institutionen statt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe in Berlin geht davon aus, dass acht bis zehn Prozent der Männer sexualisierte Gewalt erfahren mussten. Nach Dunkelfeldschätzungen hat jeder siebte bis achte Junge sexuelle Übergriffe erlebt, häufig als Wiederholungstaten über Monate oder Jahre. Die psychischen Folgen wirken lebenslänglich. Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen für Männer mit Missbrauchserfahrungen sind jedoch Mangelware. Mathias K.(Name geändert) ist als Kind sexuell missbraucht worden. Wann die sexuellen Übergriffe begonnen haben, die er von seinem Vater viele Jahre lang erleiden musste, darin kann er sich nicht mehr genau erinnern. »Ich ging bereits in die Grundschule. Mein Vater holte mich mit dem Auto ab und fuhr mit mir in den Wald. Oder ging mit mir in die Waschküche. Dort geschah es. Immer wieder.«, berichtet der heute 24-jährige Student. Gewohnt, über seine Gewalterfahrungen zu sprechen, ist er nicht. Das Gespräch ist stockend. Immer wieder nestelt der Freiburger an seinen Schnürsenkeln, schaut verlegen auf den Boden. Erst spät hat er sich einer Freundin anvertraut und versuchte, die in ihm aufsteigenden Bilder zu verarbeiten. Vergeblich. »Ich bin damit nicht fertig geworden, die Fantasien haben mich bedrängt und wurden übermächtig. Darum habe ich mir professionelle Hilfe geholt«, berichtet er. Seit Herbst vergangenen Jahres nimmt Mathias K. an einer therapeutisch geleiteten Selbsthilfegruppe teil. Ein noch immer tabuisiertes Vergehen mit vielen Gesichtern: Von unerwünschten sexuellen Berührungen bis hin zur Vergewaltigung. Die Täter kommen aus allen gesellschaftlichen Kreisen. Es sind Väter, Onkel, Tanten, Mütter, gute Freunde, Jugendgruppenleiter, Sportlehrer, Priester. »Wenn Erwachsene ein Mädchen oder einen Jungen benutzen, um ihre eigenen Bedürfnisse nach Macht, Zuwendung und Nähe in Form von sexuellem Handlungen zu befriedigen, sprechen wir von sexuellem Missbrauch«, erklärt Christoph Bösch, Psychotherapeut der Beratungsstelle »Wendepunkt« und Leiter einer Selbsthilfegruppe für männliche Missbrauchsopfer in Freiburg. »Das Klima, in dem sexuell missbrauchte Jungen und Mädchen leben, wird von Angst, Verwirrung, Ohnmacht und Hilflosigkeit geprägt. Sie zweifeln an ihrer eigenen Wahrnehmung, suchen häufig die Schuld bei sich selbst oder schämen sich für das, was ihnen angetan wurde«, berichtet Bösch. Es ist ein Klischee, dass Jungen mit physischen und psychischen Verletzungen leichter fertig werden als Mädchen. Bekommen sie keine Hilfe oder Unterstützung zur Verarbeitung des Erlebten, werden sie genau wie weibliche Opfer versuchen, das »Unfassbare« zu verdrängen und spezifische Überlebensstrategien zu entwickeln. Angstzustände, Schlafstörungen, Depressivität, sexualisiertes Verhalten, Selbstmordversuche, Alkohol- und Drogenabhängigkeit sind häufig die Folge. Die Aufnahme von sexuellen Beziehungen ist belastet. Missbrauchte Jungen fühlten sich zudem von der männlichen Welt ausgestoßen. »Es passt einfach nicht zu dem traditionellen Bild von Jungen und Männern, Opfer sexueller Gewalt zu werden«, so die Erfahrung von Psychotherapeut Bösch. Nur wenige trauten sich, über ihre Verletzungen, ihren Schmerz zu sprechen und das Erlebte aufzuarbeiten. Dazu komme die Angst, als schwul zu gelten, da bei männlichen Missbrauchsopfern die sexuelle Erregung größer ist als bei weiblichen Opfern. Ein Gefühl der Zerrissenheit entsteht: Negative Gefühle wie Schuld und Widerwillen werden an das Erleben der eigenen Sexualität gekoppelt. Ohne professionelle Unterstützung ist eine solche Gewalterfahrung kaum aufzuarbeiten. Doch neben dem gesellschaftlichen Tabu fehlen entsprechende Angebote. »Wir kennen nur 20 Einrichtungen in ganz Deutschland, die geschlechtsspezifische Therapiearbeit mit männlichen Missbrauchsopfern anbieten, und viele von ihnen kämpfen ums finanzielle Überleben«, berichtet Angela May, Vorsitzende der »Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe« in Berlin. Notwendig wäre ein flächendeckendes Netz entsprechender Angebote. Für Mathias K. war die Selbsthilfegruppe ein Weg nach vorn und hat ihm geholfen, zu einer positiven männlichen Identität zu finden. »Früher habe ich mich in meinen Träumen immer nur als Frau gesehen. Das hat aufgehört«, berichtet der Student. »Die Gruppe gibt mir Sicherheit. Hier kann ich Erfahrungen mitteilen und gleiche Erfahrungen hören.« Er hat das Tanzen entdeckt, kleidet sich neu, körperbetonter, männlicher. Den Kontakt zur Familie hat Mathias K. vor einem Jahr abgebrochen. Auf unbestimmte Zeit. Irgendwann wird er wieder mit seinem 47-jährigen Vater sprechen, ihn konfrontieren, Fragen stellen, Antworten verlangen von dem Mann, der ihn jahrelang sexuell missbraucht h...

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