Das Kriegsverbrechen von Katyn

Vor 20 Jahren: Michail S. Gorbatschow gesteht den Massenmord an polnischen Soldaten und Offizieren 1940 ein

  • Gerd Kaiser
  • Lesedauer: 5 Min.

Aufstieg und Fall aller Großmächte sind mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und mit Kriegsverbrechen verbunden. Das Massaker von Katyn, Symbol für die Erschießung von mehr als 20 000 polnischen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand, ist nur eins von Hunderten Kriegsverbrechen, die auf 118 Seiten im Internet angezeigt und zumeist in Wort und Bild auch dokumentiert werden. Die Liste der in jüngerer Zeit begangenen Kriegsverbrechen reicht vom irakischen Abu Ghoreib, wo Militärs der US-Army Häftlinge malträtierten und zu Tode brachten, bis Zagreb in Kroatien, dessen Zivilbevölkerung beschossen wurde.

Katyn, unweit von Smolensk gelegen, wurde zum Symbol für ein in seiner Art und in seinem Ausmaß einzigartigen Kriegsverbrechen. Namentlich bekannte Volkskommissare der sowjetischen Regierung und Mitglieder des Politbüros der KPdSU trugen die Verantwortung für dieses Staatsverbrechen.

Am Anfang stand ein Angriffskrieg. Er begann, ohne Kriegserklärung, am 17. September 1939. Zwei Stoßgruppierungen der Roten Armee, mehr als eine Million Rotarmisten, stießen auf breiter Front aus Belorussland und der Ukraine bis zu Bug und San, Hunderte von Kilometern tief in Polen, vor. Die UdSSR setzte sich über die mit der Republik Polen abgeschlossenen Friedens-, Grenz- und Nichtangriffsverträge hinweg. Jossif Stalin bemäntelte diese Politik mit der aus der Luft gegriffenen Behauptung, Polen sei »ein faschistischer Staat«. Dessen Vernichtung bedeute »einen bourgeoisen faschistischen Staat weniger«. Vor dem Obersten Sowjet der UdSSR feierte Wjatscheslaw Molotow die Vernichtung des Nachbarstaates »durch einen einzigen raschen Schlag«, erst seitens der deutschen und dann seitens der Roten Armee«, der »nichts mehr übrig gelassen« habe »von der Mißgeburt des Versailler Vertrags«.

Im Zuge dessen gerieten 242 000 polnische Soldaten in sowjetische Gefangenschaft oder begaben sich, wie z. B. die gesamte Garnison der Festung Lwow, in sowjetische Hand. Marschall Edward Smygly-Rydz, ihr Oberbefehlshaber, hatte befohlen, nicht gegen die einmarschierenden sowjetischen Truppen zu kämpfen. Die meisten der polnischen Kriegsgefangenen wurden in die Rüstungsindustrie vor allem der Ukraine gesteckt. Eingesetzt wurden sie auch in Hüttenwerken und im Bergbau, bei der Anlage von Feldflugplätzen und strategisch wichtigen Straßen.

Ab Spätherbst 1939 wurden nahezu alle kriegsgefangenen polnischen Berufs- und Reserveoffiziere und Generäle in drei Sonderlagern des NKWD konzentriert. Diese befanden sich in Kosjelsk, Starobjelsk und in Ostaschkow im Umland von Smolensk, Charkow und Kalinin (heute wieder Twer), in ehemaligen Kloster- und Kirchenanlagen.

Über Leben und Tod dieser Kriegsgefangenen entschieden in angemaßter Machtvollkommenheit am 5. März 1940 sieben Mitglieder des Politbüros der KPdSU (B) und Volkskommissare der UdSSR an Hand der Beschlussvorlage 794 von Lawrenti Berija. Dessen Unterschrift steht am Ende der Vorlage, während Stalin, Woroschilow, Molotow und Mikojan auf der ersten Seite abzeichneten, wo auch die Zustimmung von Kalinin (Vorsitzender des Obersten Sowjets) und von Kaganowitsch protokolliert ist.

In den Lagern für Kriegsgefangene des NKWD und in den Haftanstalten der Westgebiete von Ukraine und Belorussland befänden sich 295 Generäle, Oberste, Oberstleutnants, 2080 Majore und Hauptleute sowie 6049 Leutnants und Fähnriche, wird in dem Beschluss aufgelistet. In den Gefängnissen des NKWD der Bezirke sowie jenen der Geheimdienstzentrale in Moskau säßen weitere 1204 Offiziere sowie Tausende von Grenzschutzkommandeure, Beamten der Militärjustiz, der Polizei u. a.

Die genannten sieben Männer entschieden, die Kriegsgefangenen seien, »ohne sie vorzuladen und ohne ihnen gegenüber Anklage zu erheben ... zur Höchststrafe – Tod durch Erschießen« zu verurteilen.

In Erfüllung dieses Beschlusses wurden im Frühjahr 1940 mehr als 20 000 polnische Kriegsgefangene und Internierte hinterrücks erschossen: 4404 Männer aus dem Sonderlager Kosjelsk im Wald von Katyn, weitere 3896 Kriegsgefangene aus dem Sonderlager Starobjelsk sowie 6287 Gefangene aus dem Lager Ostaschkow in den NKWD-Gefängnissen von Charkow bzw. Kalinin. Weitere Erschießungen kleinerer oder größerer Gruppen (z. B. katholischer oder jüdischer Feldgeistlicher) fanden andernorts statt. Das unter strengster Geheimhaltung verwirklichte Massaker zwischen Anfang April und Mitte Mai 1940 überlebten lediglich 395 Kriegsgefangene.

Nachdem mit dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion die Massengräber von Katyn entdeckt wurden, hat Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, sekundiert von General Hasso von Wedel, am 13. April 1943 ein mediales Trommelfeuer entfacht, um die Weltöffentlichkeit über ein Massaker des »jüdisch-bolschewistischen Regimes« in Moskau an polnischen Offizieren zu informieren. Die sowjetische Seite leugnete unverzüglich und vehement die »Anschuldigung der Nazipropaganda« und beschuldigte ihrerseits die Wehrmacht des Verbrechens von Katyn. Diese Version wurde von Moskau jahrzehntelang aufrechterhalten. Dennoch wurde Katyn zum Synonym für ein an Kriegsgefangenen begangenes Verbrechen.

Erst am 13. April 1990 gestand Michail S. Gorbatschow, der sich ebenfalls bis zuletzt, bis es nicht mehr möglich war, ans Schweigekomplott gehalten hatte, den Massenmord unter der Verantwortung von Stalin ein. Im Oktober 1992 stellte Boris Jelzin der Öffentlichkeit die Beweise für das Geschehen, bis in alle grausigen Einzelheiten, einschließlich der in Charkow und Kalinin begangenen Kriegsverbrechen, zur Verfügung. Seitdem allerdings ist der Zugang zu den Zeitzeugnissen wieder erschwert. Exhumierungen und Ermittlungsverfahren gegen Beteiligte wurden 2004 durch die Militärstaatsanwaltschaft und im Januar 2009 durch das Oberste Gericht Russlands eingestellt. Strafanträge polnischer Familienangehöriger sowie deren Verlangen, den Opfern post mortem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wurden von russischen Gerichten abgewiesen, sind jedoch vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg anhängig.

Dementsprechend hat man in Polen sehr wohl mit Sorge den Ukas (Erlass) Nr. 549 »Zur Abwehr von Versuchen, die Geschichte Russlands zum Schaden der Interessen Russlands zu verfälschen« aufgenommen, den am 15. Mai 2009 der Präsident der Föderation Russlands unterzeichnet hat. Einer diesbezüglich von Dmitri Medwedjew berufenen Kommission gehören 28 Ständige Mitglieder an, die – bis auf drei – hohe ministerielle Amtsträger sind. Als deren »Hauptaufgaben« sind im Ukas u. a. fixiert: »Analyse von Informationen über die Fälschung historischer Tatsachen und Geschehnisse, die geeignet sind, das internationale Prestige der Föderation Russland zu schmälern«, des Weiteren »eine Gegenstrategie zu entwickeln, die Versuche der Verfälschung von historischen Tatsachen und Geschehnissen, die den Interessen Russlands abträglich sind, konterkarieren«, sowie die »Ausarbeitung von Vorschlägen, auf Fälschungsversuche zu reagieren und deren eventuelle negative Folgen zu neutralisieren«.

Auf einer in Katyn seit 1999 angelegten würdigen Erinnerungsstätte für polnische, russische, jüdische, belorussische und andere Opfer der Jahre des Großen Terrors können inzwischen auch polnische Familien ihrer Toten auf einem speziellen Soldatenfriedhof gedenken. Die Ministerpräsidenten Polens und Russlands, Donald Tusk und Wladimir Putin, treffen sich dort kommende Woche in ehrendem Gedenken.

Von unserem Autor erschien im Aufbau-Verlag »Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: