War der Preis des Sieges zu hoch?

Der »Große Vaterländische Krieg« in der Wahrnehmung des heutigen Russlands

  • Horst Schützler
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Vorabend des 65. Jahrestages des Sieges der Sowjetunion und ihrer Alliierten über Hitler-Deutschland und seiner Verbündeten wird Moskau von einem heftigen politischen Streit um die Aufstellung von Stalin-Bildern in der Stadt und die erstmalige Teilnahme von militärischen Einheiten der ehemaligen Westalliierten an der Siegesparade am 9. Mai – eine politische Geste des guten Willens des Kreml – heimgesucht (ND berichtete). In seinen Argumentationsmustern folgt der Streit den schon jahrelang in der Auseinandersetzung in Russland über den »Großen Vaterländischen Krieg« vorhandenen. Dieser wird mittlerweile von der großen Mehrheit der Bevölkerung als das bedeutendste Ereignis der russischen Geschichte überhaupt gesehen. Fast 70 Prozent der Bürger sind Stolz auf den Sieg im »Großen Vaterländischen« unter der Führung Stalins.

Dieser Krieg von 1941 bis 1945 war mit seiner Vorgeschichte zweifellos das zentrale Thema der russischen Historiografie und historisierenden Publizistik auch der letzten beiden Jahrzehnte, in denen indes eine negative Darstellung der Sowjetunion als »totalitärer« Staat, als »stalinistische Diktatur« in den Vordergrund trat. Die Publikationen wurden zahlreicher, zumeist nicht tiefgründiger, die Auseinandersetzungen zäher, in der Polemik heftiger, der Drang nach Sensationen maßloser. Das von Stalin geprägte Begriffsbild des »Großen Vaterländischen Krieges« – Synonym für einen umfassenden, gerechten Volkskrieg zur Verteidigung des »sozialistischen« Vaterlandes – blieb erhalten. Es wird jedoch vielfach als Mythos interpretiert und »neuen Wahrheiten« über einen »anderen Krieg« der »totalitären, stalinistischen« Sowjetunion das Wort geredet.

In der Geschichtsschreibung bildet einen Schwerpunkt der Vorabend des Krieges mit dem deutsch-sowjetischen. Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939. Einerseits wird Stalin, übereinstimmend mit Meinungen im Ausland, eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zugewiesen, andererseits das nationale Interesse der Sowjetunion betont. Laut dem renommierten russischen Geschichtsprofessor W. P. Smirnow von der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität entsprach der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt und das Geheime Zusatzprotokoll, das die Normen internationalen Rechts und die Souveränität der Nachbarländer brach, unter geopolitischem Gesichtspunkt den Staatsinteressen der Sowjetunion wie auch dem traditionellem Verständnis von Politik und Diplomatie. Kontrovers aufgenommen wurden im August vergangenen Jahres, anlässlich des 70. Jahrestages des Abschlusses des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes gemachten Äußerungen des Stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma Julij Kwizinskij: »Der Pakt kam zur rechten Zeit, war nötig, und unter jenen Bedingungen durchaus legitim und vom Standpunkt der politischen Strategie sehr realistisch.« Er sei »ein Meisterstück Stalins« gewesen. »Wir brauchen nichts zu bereuen«, betonte er. Premierminister Wladimir Putin: ließ verlauten: »Ohne Zweifel kann man den Molotow-Ribbentrop-Pakt mit vollem Recht verurteilen ... Heute verstehen wir, dass jede Form von Abkommen mit dem nazistischen Regime aus moralischer Sicht unannehmbar war ... Es kann keine vernünftige, verantwortungsvolle Politik außerhalb moralischer und rechtlicher Rahmen geben.« Es bleibt abzuwarten, wie die politische Deutung weiter verläuft.

Die schwere, verheerende und verlustreiche Anfangsetappe des Krieges, das Jahr 1941, wird in Russland heute die »Große Vaterländische Katastrophe« genannt. Die Ursachen werden unterschiedlich gedeutet. Vehement aber wird der Auffassung widersprochen, die Millionen in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen Angehörigen der Roten Armee hätten nicht für die Sowjetmacht kämpfen, statt dessen sich eher an ihr rächen wollen für etwa früher erlittenes Unrecht. Misserfolge im weiteren, für die Sowjetunion nach Stalingrad günstigen Kriegsverlauf bis hin zur Schlacht um Berlin werden benannt, ebenso Gewalttätigkeiten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung. Aber auch in Russland gibt es »Vielschreiber«, die jedes Jahr, zu jedem Kriegsjahr, ein Buch herausbringen, das frühere sowjetische Sichten revidiert. Dem stellen sich andere entgegen, zum Beispiel Arsen B. Martirosjan mit seinem fünfbändigen Werk »200 Legenden über den Großen Vaterländischen Krieg«.

Zunehmend wurde in den letzten Jahren dem Wechselverhältnis von Krieg, Gesellschaft, Mensch und diktatorischer Macht Aufmerksamkeit gewidmet, dabei insbesondere dem Alltag der »einfachen« Bürger und Soldaten. Stärkere Beachtung finden die Teilnahme jüdischer Bürger am Krieg sowie ihre Leiden unter faschistischer Okkupation. Im öffentlichen Bewusstsein ist »Katyn«. Das schwere Schicksal der Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter – auch nach deren Rückkehr in die Heimat – sowie der deutschen Kriegsgefangenen ist kein Tabu mehr. Ebenso die Kollaboration. Sie wird differenziert wie widersprüchlich erfasst. Bei der Fragestellung, ob der Kollaborateur ein »antistalinistischer Patriot« oder ein »Verräter der Heimat« gewesen sei, wird letzteres in der Bevölkerung favorisiert. Anerkennung erfahren hervorragende militärische und politische Persönlichkeiten wie Marschall Georgi Shukow – aber als solcher auch Stalin. Dieser gilt – ungeachtet seiner Verbrechen – als der Partei- und Staatsführer, der die Sowjetunion/Russland zu einer Macht machte. Die Hinwendung zu ihm impliziert den Wunsch nach einer entsprechenden imperialen Größe des heutigen Russlands. Historiker sehen darin eine Wiederbelebung des Stalinismus.

Immer wieder gestritten wurde und wird über den Preis und die Früchte des Sieges, Folgen und Lehren des Krieges. Während die einen den großen Sieg am 9. Mai 1945 würdigen und den hohen Preis für notwendig halten, nennen andere die Opfer zu hoch, was dem stalinistischen System geschuldet sei, das zudem durch diesen Sieg gestärkt worden ist.

Russland ist in seiner Wahrnehmung des »Großen Vaterländischen Krieges« gespalten. Im vergangenen Jahr hat Präsident Dmitri Medwedjew eine Kommission einberufen, die »Verfälschungen der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands« feststellen, prüfen und Maßnahmen zu ihrer Ahndung vorschlagen soll. Ein kompliziertes und fragwürdiges Unterfangen. Es korrespondiert mit dem staatlichen Bestreben, endlich »stabile Lehrbücher für ein stabiles Russland« zu verfassen, die dazu beitragen, patriotische Staatsbürger zu erziehen.

Professor Horst Schützler äußert sich ausführlicher zum Thema in der Broschüre »Der Große Vaterländische Krieg. Neue Sichten und Einsichten in Russland und seiner Geschichtsschreibung« (Pankower Vorträge, Heft 143, 67 S., 3 €, zu bestellen beim Verein Helle Panke, Kopenhagener Str. 76, 10437 Berlin, Tel: 030/47 53 87 24).

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