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  • 65 Jahre Befreiung

Als es in Prag »sechs hodin« schlug

Wie die Tschechen den 65. Jahrestag der Befreiung begehen

  • Jindra Kolar, Prag
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir rufen die tschechische Polizei, die tschechischen Gendarmen und die tschechischen Soldaten auf, sofort zum Rundfunk zu kommen. Kommt alle zum Tschechischen Rundfunk! Hier kämpfen Tschechen um ihr Leben! Kommt dem kämpfenden Prag zu Hilfe – wir rufen alle Tschechen.«

Diesen Hilferuf sendete am Morgen des 5. Mai 1945 Rundfunksprecher Zdenek Mancal aus einem Studio im Prager Rundfunkgebäude. Bereits früh hatte er seinen Dienst mit der zweisprachigen Zeitansage begonnen: »Je sechs hodin.« (Es ist sechs Uhr). Dieser Satz und die Tatsache, dass Mancal die Sendung fortan nur noch in Tschechisch bestritt, war das Signal an die Prager, sich gegen die deutschen Besatzer zu erheben. In allen Vierteln der Stadt wurden Barrikaden errichtet, deutsche Polizei- und Militäreinheiten angegriffen, tschechische Fahnen gehisst.

Eigentlich war die Lage der Aufständischen hoffnungslos: Die USA-Truppen hatten am selben Tag Plzen befreit, waren aber an der mit Moskau vereinbarten Linie stehen geblieben – trotz Hilferufen aus Prag. Und die 1. Ukrainische Front, zu der auch tschechische Armee-Einheiten gehörten, war noch zu weit von der Hauptstadt entfernt. Hilfe erhielten die Prager von unerwarteter Seite: Soldaten der nach dem früheren sowjetischen, dann zu den Deutschen übergelaufenen General Wlassow benannten Armee schlossen sich angesichts des nahen Kriegsendes den Aufständischen an.

Der damals 17-jährige Zdenek Dvorak erinnert sich: »Wir hörten vom Aufruf des Senders, sahen, dass überall in den Straßen die deutschen Aufschriften abgerissen wurden. Aus manchen Fenstern wehten bereits tschechische Fahnen. Da gingen wir zum Rundfunk. Ich hatte eine alte Militärpistole meines Vaters, das war meine Waffe – wir waren viel zu jung, um über die Gefahren nachzudenken.«

Auf deutscher Seite versuchten Truppen General Schörners und das Waffen-SS-Regiment »Wallenstein« den Aufstand niederzuschlagen. Überall gab es Erschießungen von Zivilisten, die SS plante, die Prager Altstadt aus der Luft in Brand zu setzen.

Aufstand und Befreiung waren indes nicht aufzuhalten: In 37 Städten und 240 Gemeinden Tschechiens und Mährens erhoben sich die Menschen. Mit drastischen Massakern versuchten die Okkupanten, ihre Positionen noch zu festigen. So drangen SS-Einheiten Otto Skorzenys ins mährische Plostina ein: Von den zwölf Häusern des Dorfes wurden zehn in Brand gesteckt, 24 Menschen kamen in den Flammen ums Leben. Bozena Hustova, damals 16 Jahre alt, erinnert sich: »Die Toten waren nicht wiederzuerkennen. Mein Bruder trug eine braune Manchesterjacke, ein Stück davon war nicht verbrannt, daran erkannte ich ihn.«

Und der Prager Zdenek Dvorak: »In allen Stadtvierteln gab es Tote. Tschechen, die von den Deutschen erschossen wurden, deutsche Prager, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Die Ungerechtigkeiten, mit denen die Deutschen die Tschechen überzogen hatten, fielen nun auf sie zurück.«

Mit den Maitagen 1945 begann eine Nachkriegszeit, in der Ungerechtigkeiten und Hass lange nicht wichen. Nach der Verfolgung der Tschechen begann die Vertreibung der Deutschen, unter Stalins Druck Anfang der 50er Jahre die Prozesse gegen »Feinde des Volkes«, auch gegen den Generalsekretär der KP, Rudolf Slansky.

Es begann der Aufbau einer Gesellschaft, die eng ans sowjetische Vorbild angelehnt war – so auch ihre Geschichtsschreibung: Als Tag der Befreiung wurde der 9. Mai bestimmt, der Tag, an dem die sowjetischen Truppen unter Marschall Konew in Prag einzogen. Dass russische Soldaten in den Uniformen Wlassows am Aufstand teilgenommen und ihr Leben gelassen hatten, kam ebenso wenig vor wie die Tatsache, dass die Deutschen bereits am 8. Mai eine Separatkapitulation mit dem Tschechischen Nationalrat (CNR) geschlossen hatten. Nach der Samtenen Revolution 1989 verkehrte sich alles ins Gegenteil: Nun wurde der Anteil der sowjetischen Befreier geschmälert, zumal die nun Herrschenden seit dem August 1968 ein distanziertes Verhältnis zu Moskau hatten.

Zum 65. Jahrestag der Befreiung sind Festveranstaltungen verschiedener Couleur vorgesehen. In Drnovice, dem Plostina nächstgelegenen Ort, finden auch in diesem Jahr wieder Gedenkveranstaltungen statt. Am Ort des Massakers ist eine Gedenkstätte errichtet. Hier würdigt man die Partisanen der Einheit Jan Zizka, die unter der Führung eines sowjetischen Offiziers stand, ebenso wie die Befreier der 2. Ukrainischen Front. Auch in Brno rief die Kommunistische Partei zu einer Veranstaltung mit sowjetischen Veteranen auf.

In Westböhmen dagegen, befreit durch US-amerikanische Truppen unter General Patton, werden mit historischen Fahrzeugen, Waffen und Uniformen die letzten Kriegsstunden nachgestellt. Durch Plzens Innenstadt paradierte schon am 2. Mai ein Konvoi historischer US-Militärfahrzeuge.

In Tschechien sehr beliebt ist das »Geocaching«: Im Internet werden GPS-Koordinaten von »Schatzorten« angegeben, die Wanderer mit einem Navigationsgerät aufsuchen können. Wie Vaclav Kohout, einer der Organisatoren des »Befreiungs-Geocaching« erläuterte, werden in den Maitagen Orte von Gefechten, Punkte der Demarkationslinie und andere in jener Zeit bedeutende Orte als Daten eingegeben. Die auf historischen Pfaden Wandelnden finden am Ziel Militärabzeichen, Geschichtsnotizen oder andere Andenken, die an die Tage der Befreiung erinnern.

»Ich brauche das nicht«, meint Zdenek Dvorak, »ich gehe jedes Jahr zu dem Haus, in dem ich damals wohnte. Dort ist eine Gedenktafel angebracht für einen Freund, der im Aufstand fiel.« Wie in jedem Jahr wird der heute 83-Jährige eine Blume hinterlegen. In Prag gibt es Hunderte solcher Tafeln.

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