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Die Rebellion von Glückstadt

1969: Geschundene Heimkinder begehrten auf

  • Marian Krüger
  • Lesedauer: 3 Min.
Vor 41 Jahren, in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1969, rebellierten die Insassen des Landesfürsorgeheims im schleswig-holsteinischen Glückstadt. Diese Rebellion von Kindern und Jugendlichen, so Zeitzeugen, wurde mit Hilfe von Marinesoldaten der Bundeswehr niedergeschlagen, was die damalige Heimleitung bestritt.

Durch eine Knüppelgasse seien die Minderjährigen getrieben und in den Bunker gesperrt worden, in dem schon die Nazis Menschen gequält hatten, so hieß es in den Berichten. Wenig später wurde ein Jugendlicher, der als »Rädelsführer« galt, erhängt in seiner Zelle gefunden. Selbstmord behauptete die Heimleitung. Der Aufstand richtete sich gegen ein Heimregime, das durch brutale Prügel, Zwangsarbeit und miserabelste gesundheitliche und hygienische Bedingungen charakterisiert war.

So berichtet der 1965 mit 17 Jahren in Handschellen ins Heim eingelieferte Rolf Breitfeld, dass er als Neuankömmling sofort in eine Zelle gesteckt und von mehreren Bediensteten mit Teleskopruten geschlagen wurde. Abgeordnete der damals in Schleswig-Holstein regierenden CDU und FDP rechtfertigten das Heim auch nach der Revolte als »unbedingt nötig«. Die SPD forderte dessen Schließung, weil an »Minderjährigen (...) dort ein verkappter Strafvollzug praktiziert« werde. Der ehemalige Insasse Otto Behnck formuliert das wohl etwas präziser: »Man wollte uns brechen.« Politisch gedeckt von der CDU-Landesregierung wurde das Gewaltregime in Glückstadt auch nach der Revolte fortgesetzt. Der im September 1969 in das Heim eingelieferte Frank Leesemann wurde von den Wärtern, die sich Erzieher nennen durften, geschlagen, bespuckt und getreten. Er erinnert sich, dass auch damals noch die alte Bettwäsche aus der NS-Zeit mit Hakenkreuz benutzt wurde. Auf seiner Homepage zeigt er ein KZ-Hemd mit rotem Winkel, das er nach wiederholten Ausbruchsversuchen tragen musste.

Eine Schulbildung hat er in seiner Zeit im Landesfürsorgeheim Glückstadt nicht erhalten. Behnk und Leesemann setzen sich heute für die Wiedergutmachung und die Anerkennung des Leidens der ehemaligen Heimkinder ein. Es geht nicht zuletzt um Entschädigung für die geleistete Zwangsarbeit und die Anrechnung der Heimzeit auf die Rente. Und Behnk will Aufklärung darüber, welches Personal aus der Nazizeit übernommen wurde. Und über alle Selbstmorde und Selbstmordversuche in Glückstadt. Breitfeld, der später auch als Fluchthelfer arbeitete, kam in der DDR in den Knast von Rummelsburg und gibt dazu zu Protokoll: Im Vergleich zu Glückstadt war Rummelsburg »um einiges erträglicher«, es gab keine Schläge und besseres Essen. Das ist kein Plädoyer für Rummelsburg, sondern gegen Glückstadt.

Glückstadt steht für ein System der geschlossenen Heime, das in der alten Bundesrepublik etwa 700 000-800 000 Kinder- und Jugendliche durchlitten haben. Wofür eigentlich? Weil sie als asozial, schwer erziehbar, abgestempelt wurden, die Schule schwänzten oder auch wegen langer Haare. Und Glückstadt steht dafür, dass sich Staat und Politik heute immer noch nicht der Verantwortung stellen, die Entschädigungs- und Rehabilitierungsansprüchen der Opfer anzuerkennen. Antje Vollmer, die Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung, führt die Zustände in den Heimen auf falsche Erziehungsvorstellungen, das Versagen von Behörden und die »Fehlleistungen« Einzelner zurück. Entschädigungsforderungen wegen Zwangsarbeit weist sie zurück.

Wer heute die Kirchen an den Pranger stellt, denen die Mehrzahl der Heime überlassen war, sollte sich nicht scheuen, auch den Staat anzuklagen. Das System der Heime hat die schweren Übergriffe und Straftaten an den Minderjährigen erst ermöglicht. Es hat die Betroffenen als Kinder geschädigt, ihnen Bildungs- und Berufsperspektiven vorenthalten und es schädigt sie heute weiter, nicht zuletzt durch die Minderung ihrer Rentenansprüche. Das System der Heime war von Anfang an rechtsstaatswidrig und verstieß mindestens seit 1956 auch gegen durch die BRD ratifizierte internationale Abkommen gegen Zwangsarbeit.

Antje Vollmers ganz schonungslose Kritik am verfehlten pädagogischen Konzept der Heime ist sicher berechtigt und geht zugleich schnurgerade am Kern vorbei. Denn hier geht es um Politik, nicht um Pädagogik. Ums Wegsperren und nicht um Bildung.

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