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Königreich im Umbruch

Landärzte sind Mangelware – aber nicht in Laubsdorf

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit Jahren steigt die Anzahl der Mediziner in Deutschland, nur aufs Dorf will keiner von ihnen. Geht hier der Doktor in Pension, findet sich häufig kein Nachfolger. Der Landarzt gilt als aussterbende Art, der allerhöchstens die Serienmacher der Fernsehsender in altmodischer Verklärung huldigen und für deren Erhalt Bundespolitiker ein paar unernste Vorschläge unterbreiten, deren Diskussion sich meistens schnell erschöpft.
Siegfried und Marliese Wieder im Wartezimmer
Siegfried und Marliese Wieder im Wartezimmer

Der alte König hat einen weißen Bart. Er kommt allerdings nicht aus dem Märchen, sondern aus Laubsdorf, einer 500-Seelen-Gemeinde südöstlich von Cottbus. Er sitzt an einem ganz und gar irdischen Schreibtisch und war 40 Jahre lang der hiesige Landarzt, ohne dass es ihn je irgendwo anders hingezogen hätte. »Es hat mir einfach gefallen«, ist sein schlichtes Fazit aus jahrzehntelangem Wunden versorgen, Diabetes erkennen, Herztabletten verschreiben, Seelen trösten und die eigene Nachtruhe unterbrechen. Dieter König, 70, will zum Jahresende sein Berufsleben beenden. Vom Thron ist er schon etwas eher gestiegen. Am 1. Juli 2009 übergab er seinem Sohn die Praxis und ist jetzt angestellt beim jungen König Martin, 34 Jahre alt.

Im Wartezimmer der Königs in der Chausseestraße 19 a wird es an diesem Dienstag im April nicht leer. Die meisten Patienten kennen sich und nutzen die Gelegenheit, sich zu unterhalten. Zwei Frauen besprechen die Kuchenfrage für einen runden Geburtstag und fragen eine neu Hinzugekommene, ob sie schon etwas über die Beerdigung wisse. Ein Ehepaar aus dem vier Kilometer entfernten Drieschnitz hat gleich noch die Mutter mitgebracht, dann lohnt sich die Autofahrt wirklich.

Lebensbedrohliche Krankheiten gilt es an diesem Tag wohl nicht zu behandeln. Die meisten Älteren, die hier sitzen, nehmen ihre Routinebesuche beim Arzt sehr ernst und freuen sich, dass der junge König den alten beerbt hat. So bleibt ihnen der viel weitere Weg nach Cottbus oder Spremberg erspart. Gesorgt haben sie sich wohl auch um ihren Arzt, aber das gehört schon zu den Dingen des Lebens, die der wortkarge Menschenschlag in dieser Gegend nicht allzu ausführlich besprechen will. Und die drohende Kopfpauschale? Abwinken allenthalben. Eine Patientin meint, dann werde alles nur noch schlimmer. Aber was könne man machen?

Als Martin König 1990 auf das Niedersorbische Gymnasium nach Cottbus geht, wählt er Latein. Der Vater registriert es und weiß, dass die medizinische Laufbahn infrage kommen kann. Aus der Option wird ein Plan, als sich der Sohn für eine Facharztausbildung in der Allgemeinmedizin mit zusätzlicher Weiterbildung in Orthopädie und Anästhesie entscheidet.

Der junge König kommt zurück

Unaufgeregt erzählt der junge König von einer Lebensentscheidung, die ob ihrer Seltenheit berichtenswert ist. Er wollte zurück nach Laubsdorf, weil ihm das Lebensumfeld hier zusagte, er hier Freunde hat und eine Perspektive für sich sah. Absolventen des Medizinstudiums wird heute viel Verständnis entgegengebracht, wenn sie nicht aufs Land wollen. Weil es ihrem Lebensgefühl nicht entspricht? Weil ihnen Kinos und Restaurants fehlen? Weil sie zu wenig Geld verdienen können? Weil sie nicht allzeit für ihre Patienten verfügbar sein möchten? Ganze Expertenscharen werden bemüht, die Fragen zu beantworten, um Strategien gegen das Aussterben der Landärzte zu entwickeln. Gesundheitsminister Philipp Rösler schlägt vor, den Numerus Clausus für das Medizinstudium abzuschaffen und eine Quote einzuführen, bei der eine bestimmte Zahl von Studienplätzen für Studenten reserviert wird, die sich verpflichten, später in eine unterversorgte Region zu gehen.

Martin König meint, damit würde das Rad neu erfunden. Den Medizinstudierenden gefällt Röslers Rezept ebenso wenig. Ihr Bundesverband teilt mit, man möge die Weiterbildungs- und Arbeitsbedingungen auf dem Land verbessern und nicht junge Leute verpflichten, sich für mindestens elf Lebensjahre im Voraus festzulegen. Bürokratieabbau, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, angemessene Arbeitszeiten müssten her.

Das sieht der alte König ebenso. Es zaubert ihm noch immer ein Lächeln aufs Gesicht, wenn er über die Wahl seines Sohnes spricht. Die Worte sind da emotionsloser. Ja, natürlich habe er sich gefreut. Er habe sich das gewünscht, seinen Sohn allerdings nie gedrängt. »Ich bin der Ansicht, dass man in dem Beruf nur glücklich wird, wenn man ihn wirklich will«.

Der 81-jährige Siegfried Wieder aus Kathlow will nach dem Arztbesuch noch zum Friseur.Er hat am Wochenende Geburtstag. »Er ist ein freundlicher Mann«, befindet Wieder über den jungen König. Der mache seine Sache gut. »Da kann man nichts sagen«, formuliert auch Frau Wieder vorsichtig ihre Anerkennung. Am Anfang wäre man schon ein wenig skeptisch gewesen, aber nun fühlen sich die beiden bei ihm genau so gut aufgehoben wie beim »Alten«. Marliese Wieder wird in das Arztzimmer gerufen, mit fast 75 Jahren will sie nach einem schweren Arbeitsleben im Kuhstall eigentlich über nichts klagen. Höchstens das Herz, naja, sie braucht Tabletten. Es klingt wie eine Entschuldigung. Viel lieber spricht sie von den Vorbereitungen auf ihren 75. oder von den wöchentlichen Ausflügen nach Forst zum Kaffeetrinken mit Freundinnen. Weil der Bus nicht mehr durchfährt, brauche sie für die zwölf Kilometer zwar eine Stunde, aber das ist ihr egal. Sie hat ja Zeit.

Bescheiden seien die Patienten, erzählt Charlotte Meschner, die seit 38 Jahren in der Anmeldung darüber entscheidet, wer wann zum König vordringt und jetzt auch darüber, zu welchem. Selten hat sie erlebt, dass sich jemand beschwerte oder gar schimpfte. Sogar die Praxisgebühr werde ohne Murren entrichtet. Die Menschen seien dankbar, dass ihnen geholfen werde. Ein bisschen klingt das nun doch nach dem Königreich aus dem Märchen, in dem der alte Herrscher seine Untertanen beschützt.

»Hier wurde niemals jemand weggeschickt«

Der alte Laubsdorfer König hat seine Patienten verwöhnt, indem er Tag und Nacht für sie da war. Am Freitag beginnt seine Sprechstunde seit Jahrzehnten um sechs Uhr morgens und auch am Wochenende – wenn die Heimwerkelei auf dem Dorf ihren Lauf nimmt und der Nachbar mit dem blutenden Daumen vor der Tür steht –, bleiben die Türen in der Chausseestraße offen. »Hier wurde niemals jemand weggeschickt«, versichert Dieter König. Sein Sohn hat offenbar nicht vor, das zu ändern. Das sei so »eingerissen«, sagt er mit einem Seitenblick auf seinen Vater, der im gleichen Atemzug formuliert, es hätte sich so »eingebürgert.«

Wie man es auch bezeichnet, bei so einem Prozedere kommen unweigerlich eine Patientenkartei mit 1400 Blättern, die 50-Stunden-Woche und 500 Hausbesuche im Quartal heraus. Eigentlich alles Dinge, die man im Königshaus nicht schwarz auf weiß gedruckt sehen will, aber diese Fakten machen vielleicht die Zurückhaltung der Mediziner vor dem Rund-um-die-Uhr-Job auf dem Land verständlich. Martin König kann sich auch daher gut vorstellen, wieder einen Kollegen in der Praxis aufzunehmen, wenn sein Vater geht.

Die Leute aus Laubsdorf, Drieschnitz, Kahsel, Bagenz, Neuhausen, Komptendorf, Sergen, Groß Luja, Gablenz oder Kathlow müssen sich um ihre medizinische Betreuung vorerst nicht sorgen. Doch in anderen Ecken des Landkreises Spree-Neiße sieht es anders aus. 13 Landärzte fehlen. Insgesamt sind rund 70 Hausarzt- und zwölf Facharztsitze im Land Brandenburg frei.

In unterversorgten Regionen können Übernahme oder Gründung einer Praxis von der Kassenärztlichen Vereinigung mit bis zu 50 000 Euro unterstützt werden. Trotzdem finden sich oft keine Interessenten. Die linke Gesundheitsministerin Anita Tack sieht die Entwicklung mit Sorge und spricht von einem ganzen Bündel Maßnahmen, die ergriffen werden sollen. Sie reichen von Zuschüssen über Stipendien für Allgemeinmedizinstudenten und Umsatzgarantien der Kassenärztlichen Vereinigung bis hin zu Überlegungen, künftig Ärzte im Land auszubilden. An den Bundesgesundheitsminister appellierte sie, das Projekt »Gemeindeschwester Agnes« finanziell besser auszustatten.

Auch der alte und der junge König haben eine ehemalige Gemeindeschwester an ihrer Seite. Auf die 28 Jahre langen Erfahrungen von Christina Trunte in den Dörfern der Umgebung möchte hier niemand verzichten. Sie ist die Herrin über Verbände, Blutabnahmen, Spritzen, Elektrokardiogramme und Computerdokumentation. Doch auch die 60-Jährige braucht wie Charlotte Meschner an der Anmeldung bald eine Nachfolge. Keine Frage: Das Königreich ist im Umbruch.

Martin und Dieter König vor der Landarztpraxis Laubsdorf bei Cottbus
Martin und Dieter König vor der Landarztpraxis Laubsdorf bei Cottbus
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