Gedichte am Gemüsestand

Die 3. »Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln« wird heute eröffnet

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Wochenmarkt am Neuköllner Karl-Marx-Platz in Berlin scheint nur auf den ersten Blick normal. Es gibt drängelnde Menschen und Gemüsestände – wie immer. Doch in das allgemeine Stimmengewirr weben sich ungewohnte Sprachgebilde. Gedichte. Lauthals werden sie vorgetragen, auf Türkisch, Deutsch, Arabisch, Spanisch, Kurdisch, Griechisch. Einige Mütter haben ihre Einkaufstüten abgestellt und lauschen. Das Händlergeschrei ist leiser geworden. Die Lyrik hat den Stadtraum erobert.

So in etwa könnte es ablaufen am Mittwoch, dem 2. Juni. Um 15 Uhr beginnt auf dem Wochenmarkt ein Lyrikmarathon, zu dem mindestens 50 Menschen eigene oder fremde Gedichte vortragen – jeder in seiner Muttersprache. Alle Interessenten können mit einem Gedicht auf den Markt kommen und sich beteiligen. Die Aktion findet im Rahmen der dritten »Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln« statt, die heute mit einem Fest am Bat-Yam-Platz ab 12 Uhr eröffnet wird.

Bis zum 6. Juni bleibt der gesamte Bezirk eine Lesebühne. Etwa 400 kostenlose Veranstaltungen, darunter Lesungen, Diskussionen, Sprachkurse, Konzerte und Theateraufführungen, laden zum Genuss von Sprache und kultureller Vielfalt ein.

Träger der breit angelegten Kulturveranstaltung ist der Verein »Aufbruch Neukölln«. Dessen Vorstand, der Psychologe Kazim Erdogan, ist Initiator der Sprachwoche, die 2006 erstmals stattfand. Damals hatte Erdogan genug davon, dass beim Thema Integration »immer wieder über Bildung und Kommunikation geredet, aber nie gehandelt wird«. Das größte Problem sieht Erdogan in der Sprachlosigkeit. »Weil wir nicht miteinander reden, entstehen Vorurteile.« Integration basiere vor allem auf gegenseitigem Austausch, der mehr umfassen sollte, als ein höfliches Guten Tag.

Für seine Idee, eine Sprachwoche zu veranstalten, um Menschen durch gemeinsame Aktivitäten zusammenzubringen, wurde Erdogan zunächst belächelt. »Ach, Neukölln und Literatur – das passt nicht zusammen!«, bekam er zu hören. Doch zu den Veranstaltungen kamen 9000 Menschen, bei der zweiten Sprachwoche 2008 waren es sogar 20 000. Finanziert wird das ganze durch Spendengelder. In diesem Jahr haben Erdogan und die anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter laut eigener Auskunft 65 000 Euro zusammengetragen. Dazu war mühsame Kleinarbeit nötig, denn feste Projektförderungen, wie etwa durch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Autorenhonorare übernimmt, sind die Ausnahme.

Ein wichtiger Teil des Konzepts ist das Bespielen von ungewöhnlichen Orten. Nicht nur in Bibliotheken oder Cafés wird gelesen und gelauscht, sondern auch in Wartezimmern von Arztpraxen, auf Spielplätzen oder in Parks. Die Freude an Geschichten kann damit auch jene erreichen, die nicht zum typischen Lesepublikum gehören. Auch der Bezug zum Stadtteil und seinen Bewohnern ist von Bedeutung. So liest etwa die Neuköllnerin Angelika B. Hirsch aus ihrem Buch »Ein Haus in Neukölln«, für das sie die Bewohner ihres Wohnhauses in der Warthestraße porträtierte. Im Vorfeld der Sprachwoche wurde zudem ein Wettbewerb gestartet, der dazu aufrief, Sprüche in der jeweiligen Muttersprache auf Postkarten einzusenden. Wie die Veranstalter mitteilten, werden die Sprüchekarten an Luftballons gehängt und zum Abschlussfest in der Rütlistraße »den Himmel über Neukölln füllen und einen Leser finden, wo immer sie der Wind hinträgt.«

Sprachenvielfalt zu zelebrieren – das kann auch für andere Bezirke ein Vorbild sein. Schließlich leben in Berlin rund 460 000 Ausländer aus über 180 verschiedenen Staaten, wie das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg im März mitteilte. Erste Interessenten für Nachahmerprojekte haben sich schon bei Herrn Erdogan gemeldet, zum Beispiel aus Friedrichshain-Kreuzberg, aber auch aus anderen Städten wie Duisburg oder München. Kommunikation und nachbarschaftliches Engagement sind eben in ganz Deutschland gefragt.


Ausgewählte Termine

30. Mai, 15 Uhr: Thementag Märchen und Sprache. Metallspielplatz am Feuchtwangerweg 17.

1. Juni, 15 Uhr: Lesung von Andrea B. Hirsch aus »Ein Haus in Neukölln«. Nachbarschaftstreff Sonnenblick, Sonnenallee 273.

2. Juni, 20 Uhr: Kriminacht, Lesung mit Horst Bosetzky. Panorama-Hochhaus 26. Stock, Joachim-Gottschalk-Weg 1.

3. Juni, ab 10 Uhr: Lesetag im Rathaus Neukölln. Karl-Marx-Str. 83.

4. Juni, 16 Uhr: Sprachkurs »Das war Arabisch – erste Einblicke in eine fremde Sprache«. Malteser Familienzentrum Manna, Lipschitzallee 72.
Quelle und weitere Termine: www.sprachwoche-neukoelln.de

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