Pillen hinter Schloss und Riegel

Täglich landen 55 Kilo Medikamente im Müll / Spezielle Tonnen für Apotheken

  • Andreas Heinz
  • Lesedauer: 4 Min.
Entsorgung in der Apotheke von Sabine Müller
Entsorgung in der Apotheke von Sabine Müller

Halsschmerz und Schluckbeschwerden machen den Menschen oft das Leben schwer. Schnell ein Gang in die nächste Apotheke und ein Fläschchen Gurgelwasser erstanden. Meist sind die Schmerzen schnell weg, aber die Flasche ist nicht leer. Also erst einmal ab damit in den privaten Medikamentenschrank, wo angebrochene Pillenschachteln und Salbentuben lagern. Die kleine Drogendeponie gerät in Vergessenheit, irgendwann ist das Verfallsdatum überschritten, das Gurgelwasser landet in der Toilette, alles andere in der Hausmülltonne. »Ist ja nicht so viel«, beruhigt sich der Entsorger.

»Weit gefehlt«, warnen Experten. Wenn jeder auch nur geringe Mengen an Arzneimitteln auf diese Weise entsorgt, wird das Grundwasser geschädigt.« Also ab damit in die nächste Apotheke. Für die hauptstädtische Pharmazie stellt die BSR spezielle verschließbare Medi-Tonnen zur Verfügung, in der alte Medikamente landen. Pille & Co. kommen sicher hinter Schloss und Riegel. »Nur wenn diese verbrannt werden, können sie nicht mehr schädlich sein«, erklärte ein BSR-Sprecher. Und das geschieht in Berlin in der Ruhlebener Müllverbrennungsanlage.

»Tabletten, Salben oder Säfte landen in Berlin gleich tonnenweise im Müll«, so der BSR-Mann. Allein im vergangenen Jahr seien bei der Stadtreinigung 20 Tonnen Arzneimittel bei den Schadstoffannahmestellen der BSR oder Apotheken abgegeben worden. Das sind den Angaben zufolge 55 Kilo täglich. »Nicht mitgezählt ist die Anzahl von nicht mehr benötigten Medikamenten, die im Hausmüll landen«, betonte der Sprecher.

»Gerade vor dem Hintergrund der stetig wachsenden Ausgaben für Medikamente entsteht durch weggeworfene und nicht genutzte, aber noch haltbare Arzneimittel ein großer finanzieller Schaden«, erklärte Susanne Hertzer, die Leiterin der Technikerkrankenkasse (TK) in Berlin und Brandenburg. Die Kasse rate daher, mit dem behandelnden Arzt intensiv über die Verordnung zu sprechen: Ist das Medikament notwendig? Wie hoch muss es dosiert sein? An diese Angaben sollten sich die Patienten konsequent halten.

Der Geschäftsführer der Apothekerkammer Berlin, Rainer Auerbach, wies darauf hin: »Pillenpackungen gibt es in den therapiegerechten Größen M1, M2 und M3.« Meist komme es zum Horten von Medikamenten, weil sich die Patienten nicht an die Einnahmeempfehlung des Arztes halten. »Oft wird auch aus Angst davor bevorratet, dass die Arzneimittel ausgehen könnten.« Für Auerbach ein Problem der Kommunikation zwischen Patient und Mediziner. Dadurch wird viel Geld weggeschmissen, stellt die TK fest.

»Medikamente dürfen immer noch im Hausmüll entsorgt werden«, bedauerte der Chef der Apothekerkammer. Und für die Apotheken gebe es keine Rücknahmepflicht. »Arzneimittel zählen zu den gemischten Siedlungsabfällen«, wies Auerbach hin. Die Stadtreinigung informiert im Internet unter www.bsr.de über Schadstoffannahmestellen, die Altmedikamente entgegennehmen. Berlin ist den Angaben zufolge die erste Stadt in Deutschland, in der die Rücknahme von Medikamenten in Apotheken gelöst ist. Zusammen mit der Apothekerkammer entwickelte die BSR dieses Sammelsystem für Apotheken – die Medi-Tonne.

Aber auch was der Mensch nach Einnahme von Medikamenten wieder ausscheidet, macht den Biologen Sorgen. »Tabletten müssen so stabil sein, dass sie sich erst im Magen auflösen«, erläuterte Prof. Werner Kloas. Der Leiter der Abteilung Ökophysiologie und Aquakultur beim Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei gegenüber ND: »Leider fehlt uns das Geld für eine weiterführende Forschung. Man kümmerte sich zwar darum, was ausgeschiedene Arzneimittel bei Lebewesen im Oberflächengewässer verändern, aber noch nicht, was dagegen getan werden kann. Auch in Kläranlagen wird die Chemie nicht ganz abgebaut. Die Lobby der Chemiker ist halt immer noch besser als die der Biologen.«

Als Beispiel führte Kloas den Einfluss von Verhütungsmitteln auf Tiere in Gewässern an. »Hormonell aktive Stoffe wie Östrogenreste können Verweiblichungsphänome bei männlichen Fischen hervorrufen.« Die Folge: Sie haben keine Lust mehr zur Fortpflanzung und sterben aus. Auch wasserlösliche Stoffe wie Epileptika tauchen nach Angaben des Biologieprofessors im Wasser auf, ebenso Kreislaufmittel wie Betablocker. »Was der Mensch an Medikamenten ausscheidet, landet letztendlich als Pharmacocktail im Wasser«, resümierte Kloas.

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