So tanzte Europa

Der Pianist András Schiff mit seinem Bach-Zyklus in der Philharmonie

  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.

Derart untheatralisch bewegt sich kaum ein Musiker auf der Bühne. András Schiff läuft zielstrebig zum Flügel, verbeugt sich knapp und spielt los. Der Pianist konzentriert seine Kraft aufs Wesentliche, verlangt er doch sich und auch dem Publikum allerhand ab. Am Mittwoch begann er im Kammermusiksaal der Philharmonie mit den sechs Französischen Suiten von Johann Sebastian Bach – das waren bis zur Pause erst mal anderthalb Stunden Musik nonstop.

Der Auftritt beendete die Serie »Schiff spielt Bach 1«. Übergreifende zyklische Aufführungen sind ein Markenzeichen des 56-jährigen, aus Ungarn stammenden Pianisten, der in den vergangenen Jahren in Berlin bereits die Beethoven-Sonaten in chronologischer Reihenfolge präsentierte.

Aber gerade Bach, dessen Klaviermusik zu Schiffs Kernrepertoire gehört, eignet sich besonders gut für solch zyklische Aufführungen. Denn Bach hatte – trotz der steten Berücksichtigung aufführungspraktischer Zwänge – einen Hang zum Universalen. Man denke an Großprojekte wie die »Kunst der Fuge«, die auf einem einzigen Thema basiert, oder an das den gesamten Tonartenkreis erkundende »Wohltemperierte Klavier«.

Die Französischen Suiten hingegen plante Bach nicht als geschlossene Gruppe. Es handelt sich um über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg entstandene, technisch nicht allzu schwierige Lehrstücke für seine Leipziger Schüler. Durch seine Komplett-Aufführung machte András Schiff jedoch deutlich, dass sich die sechs Stücke dennoch zu einem großen Bogen fügen. Sie bilden einen Mikrokosmos von mal gravitätischen, mal lieblich-gefälligen, dann wieder geschwinden oder gar stürmischen Tanzsätzen ganz verschiedener Nationalstile. Auf eine stilisierte, artifizielle Weise fasste Bach zusammen, wie Europa im Barock tanzte. Als »französisch« wurden die Stücke nur bezeichnet, um sie von den älteren Englischen Suiten abzugrenzen.

András Schiff spielt Bach auf einem modernen Konzertflügel, strebt aber gleichwohl einen Kompromiss zwischen historischer und moderner Aufführungspraxis an. Er verzichtet auf das Hall gebende Pedal und auf ein vollkommenes Legato, das auf den Tasteninstrumenten der Bach-Zeit nicht hinzukriegen war.

Haarfein, gleichsam ein Cembalo imitierend, setzt er die Töne voneinander ab und erreicht dadurch eine große klangliche Transparenz. Was Verzierungen, Artikulation und Phrasierung angeht, so richtet er sich nach den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis. Gleichzeitig bezieht er die größeren Gestaltungs- und Klangmöglichkeiten des modernen Flügels ein.

Schiffs Ideal ist eine möglichst objektive, vom eigenen Innenleben ungetrübte Rekonstruktion des Bachschen Ideenkosmos. Trocken oder gelehrt kommt sein Spiel aber deshalb nicht daher. Die Zuhörer jedenfalls waren begeistert und berührt. Bei langsamen Tänzen schlossen einige andächtig die Augen; schnelle Sätze brachten manchen Fuß zum Wippen.

Als Kontrast zu den eher einfach gesetzten Suiten spielte Schiff nach der Pause die üppig verzierte, konzertante Französische Ouvertüre. Mit seinem brillanten, lebhaften Spiel reizte er hier seine pianistischen Fähigkeiten aus.

In der kommenden Saison setzt der Pianist seinen Berliner Bach-Zyklus fort. Los geht es am 5. Oktober mit den Englischen Suiten. Um den Jahreswechsel folgen die Goldberg-Variationen und der zweite Teil des Wohltemperierten Klaviers. Wer so lang nicht warten mag, dem sei Schiffs vor kurzem bei ECM erschienene Live-Aufnahme der Bach-Partiten ans Herz gelegt.

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