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Die Unnatur dieser Verhältnisse

»Das Manifest« – in Brechts Versen und in Musik von Fred Symann – jetzt auf CD

  • Armin Stolper
  • Lesedauer: 4 Min.

Kapitalismuskritik – unter dieser Überschrift berichtete der Rezensent in einer linken Zeitung vor einiger Zeit über den Sonntag-Vormittag, an dem eine berühmte Schauspielerin aus der alten BE-Zeit (Renate Richter), zusammen mit einem jüngeren hochbegabten Mann (Hendrik Duryn) und zwei exzellenten Musikern (die das Klavier und verschiedene Schlaginstrumente bedienten), Brechts »Manifest« nach Marx und Engels auf neue Art dargeboten hatten. Angestiftet dazu waren sie von dem hervorragenden Komponisten (Fred Symann), dem wir es zu danken haben, wenn wir jetzt das Ergebnis dieser Kollektivarbeit auf einer CD hören können, an der auch Manfred Wekwerth als Hersteller der Fassung und Sprecher des Vorworts beteiligt ist.

1945 hatte Brecht, dieser verrückte Kerl, die völlig verrückte Idee, die klassische Kampfschrift des kämpfenden Proletariats zu versifizieren, weil er glaubte, damit deren Aussage zu steigern und ihre Aktualität noch besser beweisen zu können. Als er seinerzeit damit befasst war und unvorsichtiger Weise sowohl seinen Kollegen Feuchtwanger, Korsch, Eisler und später einigen seiner Schüler von diesem Plan erzählte, hatten die nichts Eiligeres zu tun, als ihm die Qualität der Hexameter und das ganze Unternehmen madig zu machen.

Wekwerth, einer der Schüler, inzwischen selber achtzig und auch etwas weiser, ärgerte sich jetzt gewaltig, dass sie dem Brecht damals die Lust an der vollständigen Versifizierung des Jahrhunderttextes ausgetrieben hatten. Als ob den Brecht vorrangig dichterische Gelüste dazu getrieben hätten! Brecht war immer ein fauler Dichter. Er schrieb immer nur, wenn er Lust dazu verspürte. Und die Lust überfiel ihn immer, wenn er eine neue Sauerei der alten Säue aufgedeckt, er einen neuen Vorschlag zum besseren Zusammenleben der Menschen zu machen hatte, was das sich Lieben untereinander durchaus einschloss, oder wenn es darum ging, die DDR trotz all ihrer Blödheiten und Bosheiten zu retten vor den Klassenfeinden.

Ich hatte während der Vorführung leise zu meiner Frau gesagt, ich glaube nicht, dass das, was wir hier hören, von den Klassikern ihrer Lehre und auch nicht von dem berühmten Stückeschreiber des vorigen Jahrhunderts stamme; vielmehr meinte ich, es handele sich um einen Text, den die Interpreten heute erfunden und aufgeschrieben hätten, um so die Probleme der Gegenwart unter die Leute zu bringen, die denen unter den Nägeln brannten oder brennen sollten. Das, was da von der Bühne des Gewerkschaftshauses herab zu vernehmen war, schien von solcher Aktualität, dass man sich nicht vorstellen konnte, die Worte seien seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten in der Welt. Aber sie waren es, und wenn sie damals noch den Kapitalismus als einen gewalttätigen, aber die Produktivkräfte ungeheuer vorwärtstreibenden schamlosen Burschen beschrieben, dem im Proletariat diejenige Kraft erwachsen war, die ihn niederringen würde – so war er heute freilich immer noch präsent wie nie zuvor und hatte seine schon oft totgesagten Fähigkeiten mit neuen Mitteln und Methoden weltweit unter Beweis gestellt. Ja, nach dem nicht vorhergesehenen Untergang seines Gegners, der ihm bereits ein knappes Jahrhundert Paroli geboten hatte, war zu sehen, dass er in Gestalt von Tarnkappenbombern überall auf dem Planeten präsent war, Natur denaturierte, Menschen abschaffte, und das völlig verrückt gewordene Finanzkapital als seinen verwegensten, gewissenlosesten Interessenverwalter weltweit herrschen ließ.

Später, als Renate Richter das Lied aus der »Maßnahme« vortrug, in dem in je einer Strophe nach dem gefragt wird, was ein Reis und was eine Baumwolle sei und jedesmal darauf geantwortet wird, dass der Kapitalist diese Dinge alle nicht kenne, er lediglich wisse, was deren Preis sei, gab es dann in der dritten Strophe eine Überraschung. Als die Sängerin nun die Frage stellte, was denn ein Mensch sei – erlebte sie im Saal eine Reaktion. Ein kleines Bürschchen, vielleicht sechs, sieben Jahre alt, gab einen gut vernehmbaren Ton von sich, der so lauten konnte, wie: Hah! Als ob ein Kind nicht wüsste, was ein Mensch ist. Die, welche an diesem Manifest herumgeschrieben, herumgedichtet, herumgebosselt haben, die die Worte einem zwingenden Rhythmus unterwerfen, damit sie über unser Gehör Hirn und Herz um so eindringlicher erreichen, sie haben alle was von Kindern gehalten und auch an ihre Zukunft geglaubt. Man mache den Versuch und lese, wenn man die musikalische Version auf der CD hört, die Hexamter dazu, und man wird dem Komponisten frohen Dank für seine kunstvolle Arbeit sagen.

Und ich bin lustig genug, um mir vorzustellen, dass der listige Brecht und seine genialen Tonsetzer Dessau und Eisler mit beifälligem Grinsen auf das Tun der Heutigen blicken. Foto: dpa

Das Manifest – Text: Bertolt Brecht (nach Marx/Engels) Fassung, Vorwort von Manfred Wekwerth, Musik: Fred Symann, Sprecher: Renate Richter, Hendrik Duryn, Klavier: Fred Seymann, Percussion: Torsten Adrian, Aufnahme und Tonregie: Holger Schwark. – Vertrieb: Verlag Wiljo Heinen, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Preis: 11 Euro.

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