Tanz im Tacheles
Facetten einer Schlafenden
Es ist mehr als der Abschied von einer weiteren Generation an Absolventen. Wenn zu Ausgang dieses Studienjahres die neuen Diplom-Choreografen gekürt werden, dann läuft damit auch ein Modell aus, das seit mehr als zwei Dezennien mit respektablem Erfolg Handwerk vermittelt hat.
Talent, wusste auch Begründer Dietmar Seyffert, kann man nicht lehren, nur die vorhandene Begabung kultivieren. Nicht von ungefähr hat er den Studiengang Choreografie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« angesiedelt, weil er sich davon positive Rückkopplungen versprach. Zeitweise hat das bestens funktioniert. In der Theaterchoreografie lösen sich manche Dinge jedoch anders. Viele Talente springen gleich ins »Wasser« eines Engagements, setzen sich vor Ort durch, und so ließ der Ansturm geeigneter Studenten nach. Seyffert ging altersgemäß von Bord.
Zu den acht letzten Absolventen der Diplom-Ausbildung gehört Stephan Ehrlich. Nach fünfjährigem Studium an der Leipziger Ballettschule, auch sie inzwischen Geschichte, hat er 15 Jahre in namhaften Ensembles getanzt: Semperoper Dresden, Finnisches Nationalballett Helsinki, Ballett Bern, zuletzt zeitgenössisch in Lissabon. Da sammelt sich viel Wissen an – und der Wunsch, vom Ausführenden zum Erfindenden zu wechseln.
Mehrere kürzere Stücke hat er während des vierjährigen Studiums choreografiert, sich dabei mit sehr guten Tänzern ausprobieren dürfen. Auch für die Diplomarbeit stehen ihm wieder profunde Interpreten zur Seite. Doch diesmal geht es um eine abendfüllende Produktion, Stephans längste Arbeit bisher. »Allnächtlich« dringt in die Welt der Träume vor. Eigene Traumerfahrungen haben ihn hierzu angeregt, erzählt er. Nun will er sie verallgemeinert im Tanz beschreiben. Drei Tänzer werden zu Facetten einer Schlafenden, die per Video auftaucht und das Geschehen steuert.
Für »allnächtlich« nutzt Stephan den Theatersaal des Tacheles in seiner Längsseite. Wie in Traumtrance winden sich die Tänzer auf die Fläche, einer von ihnen hängt an einem langen weißen Schal, der dem Boden entsprießt und den Bewegungsradius einschränkt. Als poetische Metapher fungiert die Projektion der Schlafenden auf weißem Grund. Welche Kontakte sich zwischen den drei Inkarnationen ergeben, verrät die Premiere heute Abend. Stephan unterlegt ihr eine Collage träumerischer Musiken aus Hollywood-Filmen, will deren Emotionen unterlaufen. Für das Tänzertrio keine leichte Aufgabe. Erstmals arbeiten sie in dieser Formation zusammen: Brit Rodemund, Jenny Rotsch und der Spanier Fernando Carrión Caballero, zuletzt an der Oper Lyon.
Im Tacheles, wieder einmal von Schließung bedroht, ist gerade die Klimaanlage ausgefallen. Für Reparatur gibt's kein Geld, sagt Milos Vujkovic, künstlerischer und technischer Leiter in Personalunion. Nur noch bis zu sechs Wochen voraus kann er planen, Spielraum, den ihm eine Räumungsklage lässt, und die kann täglich kommen. Profit darf er laut Vereinsstatut ohnehin nicht machen, internationale Förderung geht indes schon lang nicht mehr. Seit zehn Jahren trotzen wir der Schließung, fügt er hoffnungsvoll an.
Bis 18.7., 20.30 Uhr, Tacheles, Oranienburger Str. 54-56A, Mitte, Infos unter www.allnächtlich.de
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