Vom Vierfüßer zum Killer
Sasha Waltz eröffnet mit dem Menschheitsepos »Continu« die spielzeit’europa
Sasha Waltz & Guests beim Eröffnungsabend der spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele: »Continu«, fortgeführt, nennt sich, was tatsächlich etwas fortsetzt. Das zweistündige Projekt verarbeitet Material, das die gebürtige Karlsruherin und jetzige Weltbürgerin des modernen Tanzes während den Improvisationen ihrer »Dialoge« genannten Reihe angesammelt hat.
Das Jüdische Museum Berlin hat sie eingeweiht, den Rohbau des Neuen Museums und, kurz danach, das MAXXI in Rom. Was Waltz mit ihrer Compagnie dort still in kahle Räume gesetzt hatte, sorgte für spektakulären Zulauf und wurde zum Rohstoff einer abendfüllenden Produktion. Beide Teile bieten Wiedererkennungseffekte, dramaturgisch in gänzlich neue Zusammenhänge gestellt. Stand den Tänzern bei den musealen Raumerkundungen das gesamte Haus zur Verfügung, sperrt sie die Choreografin jetzt in Thomas Schenks hochragendes Bühnenbild: einen dreiseitig abgeriegelten, schwarz glänzend drapierten Kasten. Für die Berliner Premiere wurden die Stückteile gegenüber der Zürcher Uraufführung getauscht. Das setzt auch andere Akzente.
Auf weißem Grund steht lange ein asiatischer Mann im Slip, ehe er sich mechanisch zuckend und kampfsportlich wendig bewegt. Vier Männer in gleicher Nacktheit grundieren ihn synchron und extrem langsam, führen die Hände zum Fingergitter gen Boden. Da setzt wie mit Sirenenheulen die Musik ein: Claude Viviers »Zipangu«. Ein Schwarm Angezogener breitet sich aus, schreitet über die Liegenden hin, gliedert sich zu plastischen Gruppen. Spannung bezieht die Komposition aus dem Mit- und Gegeneinander zu Tonschwellungen ebenso wie aus den Mutproben Einzelner, sich gegen die Gruppen zu behaupten.
Drei Frauen im Wandgang, von ihren Partnern assistiert, zitieren die Museums-»Dialoge«; Formverknappungen erinnern an die Reduktionen Gerhard Bohners. Beim luziden Duo zweier Frauen heben Männerhände von hinten den weißen Belag hoch, engen den Raum zusätzlich ein und bieten gleichsam einen lichten Rahmen für den Tanz. Ein Mann zieht nach einer halben Stunde den Kunstteppich diagonal mit sich nach vorn, wischt die Aktion einfach fort.
Den zweiten Teil beginnt ein düsteres Bild. Im Dunkeln schweben zeitlupenhaft drei fast Nackte an Longen wie Zeit und Raum entrückt, Marionetten oder hängendem Vieh ähnlich. Was folgt – zu Rascheln und Metallklang in Iannis Xenakis’ »Concret PH«, dann sich zum Orkan steigernd – ist der Weg des Menschen vom Vierfüßergang zur Killerexistenz als fiebriger Bilderbogen sozialen Abstiegs. Nichts bleibt hier mehr Improvisation oder Zufall: Bis ins Detail fixiert ist eine massige Choreografie für 24 Tänzer, die Frauen in langen Kleidern. Chorische Gliederungen und ihre ekstatischen Staffelungen, wie einst der Ausdruckstanz sie einsetzte, steigern sich technisch furios, mit angewinkelten Armen, vielgliedrigem Getriebe aus Körpern, als sei das Maschinenballett neu ausgerufen.
Im Zentrum steht mit zahlreichen Soli das individuelle Aufbegehren besonders der Frau, deren Wildheit den Männern Paroli bietet. Als Edgar Varèses »Arcana« losbricht, erreicht auch die choreografische Wucht ihren Höhepunkt. Wie in einer Vorstudie zu »Sacre du printemps« schert ein weibliches Opfer aus, formiert sich die Gruppe bald zum Block, bald umgreift sie in Kreisformation die solistischen Aktionen. Angst macht Streit Platz, einer knallt alle ab. Nur er und ein Mann überleben, die Flucht aus dem Inferno gelingt nur durch den Saal. Keinen Trost weiß Sasha Waltz. Im Umgang mit Raum und Gruppe erreicht sie eine neue Qualität, auch wenn Teil zwei mit 60 Minuten etwas lang ausfällt. Nächstes Tanzgastspiel: »Création 2010«, Ballet Preljocaj/Bolschoi-Theater, 2.-4.12.
Nochmals 13., 14.11., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Charlottenburg, Kartentelefon 25 48 91 00, Infos unter www.spielzeiteuropa.de
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