Disziplin am Steuer sinkt – Vollgas auch bei Rot

Alltagserfahrungen und Expertenmeinungen deuten auf zunehmende Ignoranz gegenüber Verkehrsregeln hin

  • Andreas Rabenstein, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Kreuzung liegt direkt hinter dem Roten Rathaus. Ein riesiger Baulaster ist noch 30 Meter von der Ampel entfernt, als über der Linksabbiegerspur Rot aufleuchtet. Der Fahrer tritt das Gaspedal durch. Mit brüllendem Motor schafft er es noch gerade vor den startenden Autos auf der Querstraße. Die Szene ist kein Einzelfall, wie ein einfacher Test zeigt.

Eine andere Kreuzung an einer Durchgangsstraße ein paar Meter weiter in Berlins Mitte. Leipziger Straße, Ecke Fischerinsel, vier Spuren in beide Richtungen, Hauptverkehrszeit und Nieselregen. Alle 90 Sekunden ähnelt sich die Szenerie. Die Ampel springt auf Gelb, einige Autos schaffen es noch so gerade. Das rote Licht leuchtet – zwei weitere Fahrer geben Gas und schießen über die Kreuzung.

40 Sekunden Rotphase vergehen, dann 47 Sekunden Grün und 2,5 Sekunden Gelb. Diesmal beschleunigt ein Corsa-Fahrer, als die Ampel längst auf Rot gesprungen ist. Das Ergebnis nach 20 Ampelphasen: In 15 Durchgängen ignorierten 21 Autofahrer die rote Ampel. Nur bei fünf Phasen standen alle Wagen rechtzeitig.

Sinkende Disziplin von Auto- oder auch Radfahrern im Großstadtgedränge sieht die Polizei nach offiziellen Angaben aber nicht. Andere Beobachter, seien sie beruflich mit dem Thema befasst oder nur privat unterwegs, bestätigen jedoch die Eindrücke. »Das deckt sich genau mit meinen persönlichen Erfahrungen«, sagt der Sprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP), Klaus Eisenreich. »Die Entwicklung ist schwer bedenklich und hochgefährlich.« Schuld sei der Personalabbau, 4000 Polizisten würden fehlen. »Der flächendeckende Kontrolldruck ist besonders in dieser Stadt gar nicht mehr vorhanden.« Nötig seien Polizisten, die sich mit Verkehrssündern auseinandersetzen könnten, und nicht weitere Blitzgeräte.

Auch Taxifahrer, die mitunter Teil des Problems sind, stimmen zu. »Es ist mehr geworden. Wird doch keiner geschnappt«, sagt Klaus, 51 Jahre alt, und seit vielen Jahren im Taxi unterwegs. Sich selber nimmt er nicht aus. »Natürlich macht man da auch mit.« Weitere Beobachtungen an großen Durchgangsstraßen zeigen: In jeder zweiten bis vierten Ampelphase drückt ein Fahrer lieber noch schnell aufs Gas anstatt zu bremsen, obwohl längst Rot ist.

Die Polizei verweist auf die Statistik. Die Unfälle hinter roten Ampeln werden weniger, 2009 waren es noch 1314. Die Zahl der registrierten Rotlicht-Verstöße von Auto-, Motorrad- und Radfahrern liege seit Jahren bei etwa 60 000 Verstößen. Tendenz unverändert. Doch die Zahlen zeigen auch, wie gering die Gefahr für Autofahrer ist, die die derzeit 19 Blitzampeln kennen. Knapp 38 000 Rotlichtsünder wurden 2009 von den Kameras geknipst. Bleiben 22 000 Fahrer im Jahr, die an anderen Stellen auffallen. Das sind 60 am Tag – an 2000 Berliner Ampeln. Auf Fragen dazu lautet die lapidare Antwort der Polizei: »Statistiken oder Schätzungen über das Dunkelfeld existieren nicht.«

Überhaupt ist der Polizei bei dem Thema offenbar unwohl. Die Beantwortung einiger schriftlicher Fragen dauert vier Tage. Die ursprüngliche Zusage zu einem Gespräch über das Thema wird zurückgezogen, aus »terminlichen Gründen und zur Vermeidung von Missverständnissen«, wie es später heißt.

Der Verkehrspsychologe des ADAC in München, Ulrich Chiellino, spricht von zunehmendem Stress und fehlenden Konsequenzen. »Die Verdichtung auf der Straße und die beruflichen Belastungen außerhalb des Verkehrs erzeugen mehr Regelverstöße.« Viele Autofahrer würden sich »Herantasten an eine Grenze und auch darüber hinaus«. Maßgeblich sei ein bestimmtes Erfolgsprinzip. »Wenn zwanzigmal nichts passiert, wird es normal, das zu machen«, sagt Chiellino.

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