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Dieser unendliche Himmel
»Krieg und Frieden« von Lew Tolstoi in neuer Übersetzung
Wie oft bewältigt man Tolstois Romanepos »Krieg und Frieden«, über 2000 Seiten anspruchsvolle Lektüre? Und welche Übersetzung lohnt die Anstrengung – die von Hermann Röhl (1915), Erich Boehme (1924), Werner Bergengruen (1953) oder Marianne Kegel (1956)? Sie alle sind zum hundertsten Todestag Tolstois noch auf dem Markt, Röhl bei Aufbau, Boehme bei Diogenes, Bergengruen bei List, Kegel bei Artemis & Winkler, dazu die Urfassung bei Fischer. Jetzt hat der Carl Hanser Verlag eine neue Übertragung von Barbara Conrad herausgebracht, von der man uneingeschränkt sagen kann, dass sie alle früheren Versionen in den Schatten stellt.
Sie sei stärker auf die sprachliche Eigenart des Autors ausgerichtet – was der seinem Publikum zumute, werde auch dem Leser der Übersetzung zugemutet, kommentiert Barbara Conrad. Dementsprechend verzichtet sie darauf, Tolstois Wortwahl und Stil zu glätten, belässt das gewollt Grobe und Knorrige, Wiederholungen, Parallelismen, Satzfetzen, grammatische Brüche, die niedere Umgangssprache und das gesuchte Französisch des Adels. Im Ergebnis ist eine Lesart des genialen Meisterwerks entstanden, die höchste Erwartungen erfüllt.
Die Grundthemen aber bleiben Krieg und Frieden. Im Kaukasus und bei der Verteidigung Sewastopols hatte der junge Tolstoi den Krieg kennengelernt. Seitdem interessierte ihn »das eigentliche Faktum des Krieges: das Töten«, weniger die Strategie der Feldherren. Aus Stendhals »Karthause von Parma« leitete er den Grundsatz ab, den Krieg so zu schildern, »wie er in Wirklichkeit ist«. Als Fürst Andrej Bolkonski 1805 bei Austerlitz verwundet wird, fühlt er sich nicht als Held, verschwendet keinen Gedanken an Zar und Vaterland, sondern ist glücklich, über sich den unermesslich hohen Himmel zu sehen: »Ja! alles ist eitel, ist Trug, außer diesem unendlichen Himmel.« Vor Borodino begreift Andrej, dass Krieg »das Allerscheußlichste im Leben« ist, Zweck des Krieges das Töten. Wer die meisten Menschen töte, bekomme die höchste Auszeichnung. Man töte und halte anschließend Dankgottesdienste ab: »Wie kann Gott von dort zuschauen und sie anhören!«
Die Herrscher und Heerführer im Roman kennen keine tiefen seelischen Erschütterungen. Nicht ohne Absicht zeigt Tolstoi sie häufig aus der Perspektive einzelner Figuren oder Bevölkerungsgruppen. Alexander ist in den verklärten Augen Nikolai Rostows der »schöne junge Kaiser« mit einem »schönen jungen und glücklichen Gesicht«. In Napoleon sehen die Moskau den eitlen »Italiener Buonaparte«, den »Emporkömmling« und »Usurpator«. Der auktoriale Erzähler aber weiß, der Feldzug gegen Russland begann »ungeachtet dessen, dass Napoleon selbst einen Brief an Kaiser Alexander geschrieben hatte, in dem er ihn Monsieur mon frère nannte und aufrichtig versicherte, dass er keinen Krieg wünsche und dass er ihn immer lieben und ehren werde«. An anderer Stelle formuliert der Erzähler, alle Kriegsteilnehmer würden annehmen, sie wären frei und wüssten, was sie tun. In Wirklichkeit aber seien sie nur »Werkzeuge der Geschichte«.
Tolstois Vorstellung vom Frieden konstituiert sich vornehmlich im Alltag der Adelsfamilien Rostow, Bolkonski, Besuchow und Kuragin. Die Rostows feiern trotz der Geldsorgen in ihrem Moskauer Domizil mit achtzig Gästen den Namenstag der jüngsten Tochter Natascha. Ihr gilt die ganze Aufmerksamkeit des Erzählers. Liebevoll beschreibt er den ersten Kuss, den Tanz mit Andrej Bolkonski auf dem Silvesterball, die Verführbarkeit durch den Schmeichler Anatole Kuragin, die Fürsorge für den sterbenden Andrej. Die bodenständigen Bolkonskis wahren Distanz zum hauptstädtischen Treiben. Der alte Fürst, aufs Land verbannt, erzieht seine Kinder Andrej und Marja nach friderizianischen Grundsätzen. Graf Besuchow, der reichste Mann Moskaus, vererbt das gesamte Vermögen seinem illegitimen Sohn Pierre. Den angelt sich die larvenhaft schöne Hélène Kuragina, um ihn schamlos zu betrügen. Pierre, einer der wichtigsten Ideenträger des Romans, duelliert sich, irrt als wissbegieriger Zivilist über das Schlachtfeld von Borodino, wird in der französischen Gefangenschaft durch die Begegnung mit dem frommen Bauern Platon Karatajew geläutert, heiratet Natascha Rostowa und gründet eine Geheimgesellschaft der »anständigen Leute«.
In der Zeichnung dieser blutvollen Charaktere tritt Tolstois große künstlerische Kraft zutage, aber auch, wenn er Feste, Empfänge, Soireen, Bälle, Schlittenfahrten, eine Jagd, einen Opernbesuch, Versammlungen des Englischen Clubs und der Freimaurer, Wetten, Duelle, Geburts- und Sterbeszenen, Landschafts- und Naturbilder schildert.
Das imposante Bild einer ganzen Epoche russischer Geschichte. Es lohnt sich, diese Welt neu zu entdecken.
Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Übersetzt, kommentiert von Barbara Conrad. Hanser Verlag München. 1104 und 1184 S., Leinen, 58 €.
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