Unrecht mit System

Hunderttausende mussten Zwangsarbeit verrichten

  • Erich Walter
  • Lesedauer: 3 Min.
Heute beendet der Runde Tisch Heimerziehung seine zweijährige Arbeit mit der Vorlage eines Abschlussberichts. Das 22-köpfige Gremium unter dem Vorsitz von Antje Vollmer (Grüne) einigte sich auf einen »nach oben offenen« Entschädigungsfonds von 120 Millionen Euro für die verbliebenen rund 30 000 ehemaligen Heimkinder. Diese sollen für Folgeschäden der brutalen Erziehungsmethoden in kirchlichen und staatlichen »unbürokratisch« entschädigt werden. Bund, Länder und Kirchen kommen zu gleichen Teilen für die Summe auf. Im Januar wird der Bericht dem Bundestag vorgelegt, welcher der Empfehlung noch zustimmen muss, ebenso wie die westdeutschen Länderparlamente. Rund 800 000 Kinder und Jugendliche wurden in den 50er und 60er Jahren in deutschen Heimen gedemütigt, misshandelt und zur Arbeit gezwungen. Der Verein ehemaliger Heimkinder hatte Entschädigungen für die Betroffenen in Höhe von 55 000 Euro geforder

Hunderttausende westdeutsche Kinder und Jugendliche wurden bis in die 70er Jahre in geschlossene Heime eingewiesen. Ihr Alltag war durch Zwangsarbeit, Misshandlungen und sexuellen Missbrauch gekennzeichnet. Zwei Drittel der Heime waren in kirchlicher Trägerschaft.

Der »Runde Tisch Heimerziehung«, der von der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) geleitet wird, hat nun einen Abschlussbericht vorgelegt, der auf harsche Kritik bei den Betroffenen stößt. Streitpunkt sind vor allem die Entschädigungen für die ehemaligen Heimkinder. Bund, Länder und Heimträger sollen demnach 120 Millionen Euro in eine Bundesstiftung einzahlen. Die soll für Therapien und entgangene Rentenbeiträge aufkommen. Heimträger wie die Caritas verdienten an den Heiminsassen, die nach Angaben des Runden Tischen auch an Gewerbetreibende, Handwerker und Bauern regelrecht vermietet wurden. Dafür entrichtete die katholische Organisation aber keine Rentenbeiträge. Dies wirft die Frage auf, inwieweit die Bundesrepublik durch ihr Heimregime gegen das ILO-Übereinkommen zur Zwangsarbeit verstoßen hat, das sie 1956 ratifizierte. Demnach ist »Zwangs- oder Pflichtarbeit jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.«

Den Begriff möchte Vollmer aber lieber nicht hören. Der »in Deutschland historisch besetzte Begriff der Zwangsarbeit kann nicht verwendet werden – auch wenn Kinder und Jugendliche zur Arbeit gezwungen wurden und auch wenn sie dies als Zwangsarbeit empfunden haben«, heißt es in einem der Berichte des Runden Tisches. Und so appelliert die ehemalige Pastorin an den historischen Anstand der Opfer, sich beim Verursacher ihres trüben Schicksals doch einer diskreteren Sprache zu befleißigen. Der Runde Tisch hatte die Klarsicht zu erkennen, dass die Sprache der Opfer, die von Menschrechtsverletzungen, Folterungen und Zwangsarbeit sprechen, nicht die seine sein kann. In der Sprache des Runden Tisches klingt das schon alles nicht mehr so erschreckend. Dort ist von missbräuchlichen Erziehungsmethoden die Rede.

Dagegen hat der Berliner Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler ein ganz konkretes Bild von dem Konzept der Zwangsarbeit, das in den Heimen verfolgt wurde. »Der allergrößte Teil des innerbetrieblichen Wirtschaftens ist durch Kinderarbeit abgedeckt worden.« In den Jahrzehnten des Bestehens der geschlossenen Heime müssen so Beträge zusammenkommen, »die in die Milliarden gehen.« Für die Vorsitzende des Vereins der ehemaligen Heimkinder, Monika Tschapek-Güntner, war der Arbeitszwang für die Insassen eine der zentralen Säulen des Regimes: »Sonst hätte das System Heim nicht funktioniert.« Auch wenn heute vor allem die Grausamkeiten des kirchlichen Heimpersonals am Pranger stehen, sollte doch nicht vergessen werden, dass es der Staat war, der die Kinder in die Heime brachte und der durch deren miserable Finanzierung den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeit förderte. Die Kirche assistierte dem autoritären Erziehungsmodell der Adenauerrepublik. Schläge, Demütigungen und Zwangsarbeit waren die Fortsetzung dieser Politik mit christlichen Mitteln. Diese Komplizenschaft zwischen Staat, Kirche und den von ihnen gelenkten Wohlfahrtsorganisation setzt sich nun am Runden Tisch fort.

Deswegen ist es nicht überraschend, dass die Forderungen des Heimkindervereins abgelehnt wurden. Hier geht es nicht nur um die geforderten 300 Euro pro Monat, die den Vertretern von Staat und Kirche schon zu viel sind. Es geht um die Staatsräson. Würden alle Heimkinder – unabhängig von ihrer Bedürftigkeit oder Traumatisierung – gesetzlich entschädigt werden, würde der Staat das Unrecht, dass er mit dem Heimregime schuf, anerkennen. Dieses Unrecht ist nicht die Summe von bedauerlichen Entgleisungen oder Exzessen Einzelner, sondern hatte System.

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