Netz und Boden

»Wetten, dass ...?«, Gottschalk, Zirkus

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Das ZDF untersucht gründlich die Geschehnisse ums Unglück bei »Wetten, dass …?« Der 23-jährige Samuel Koch war bei Sprüngen über fahrende Autos gestürzt; noch immer ist unklar, wie schwer die Lähmungen sind. Dem Moderator Thomas Gottschalk wurde von allen Seiten eine kluge Reaktion bescheinigt. Die Sendung wird weiter stattfinden – sicher mit deutlichen Zeichen emotionaler Hemmung, aber wohl ohne wirkliche Beeinträchtigung durch jenen stigmatischen Stempel, der einer simplen Gesellschafts- und Medienkritik immer am ehesten einfällt.

Gerade Kochs Wette, so das ZDF, sei von Anfang an begleitet worden von Hochstandards überhaupt möglicher Beratungs- und Absicherungsleistungen. Aber freilich: Jedes Unglück, so der Fernsehrat, lässt Alarmglocken läuten, die vorher nicht zu vernehmen waren. ZDF-Intendant Markus Schächter: »Wir werden gemeinsame Maßstäbe und Kriterien für die Auswahl der Wetten überprüfen und neu definieren.«

Wird's nun weniger kribbelig? Hoffentlich nicht. Denn eine Wette der Art etwa, dass jemand Grashalme zum Lachen bringt, wäre sensationell, aber nicht abendfüllend. Die Erfindung, sagen wir: des gefahrlosen Frauen-Häkelkreises, das war einst nur – die Erfindung des Häkelkreises. Mehr nicht. Die Erfindung aber von Zirkus, Leistungssport und Wettshow erfolgte aus dem Geist der Konkurrenz, des Ehrgeizes und dessen Befriedigung vor Publikum. Es gibt Dinge, die wünschen wir uns unbedingt ohne Netz und ohne doppelten Boden. Und ohne Häkelkreis.

Nun gut, so könnte jetzt die ach, bei jeder Gelegenheit so vernünftige Gemeinde der Mahner einwenden, just dieser Wunsch nach dem Gefahrvollen sei Teil des Ahumanen in uns, das einer Zähmung durch Gebote und Gesetze bedarf. Stimmt. Und es gibt diese Gesetze und Gebote, und sie unterliegen einer fortwährenden Verschärfungspflicht, um Menschen bestmöglich zu schützen, manchmal auch vor sich selber.

Aber: Der Ehrgeiz, Kräfte auf riskante Weise zu messen, der bleibt. Der übersteht jeden Unfall. Und der Konkurrenzgedanke erschafft immer neue Rekorde. Und das Publikum will die Ungewissheit und die Spannung und die mögliche Überreizung – also etwas, das sich bei hochsportlichen Ansetzungen wie Ski alpin, Schanzenspringen oder »Wetten, dass …?« zwingender einstellt als etwa bei Langzeitdokumentationen über die erwähnten Häkelkreise. Gleichmut ist sehr philosophisch, aber auch öde. Sanftmutiges Dahinwandeln ist vielleicht heilsam, aber auch langweilig. Und amplitudenschwaches Leben ist leider auch flach.

Alljährlich, vor den großen Marathonläufen von New York oder auch Berlin, ballen sich in den Medien Warnungen der Mediziner vor solch lebensgefährlichem Experiment. Die Zahl der Teilnehmer wächst und wächst dennoch. Ist es einzig die Unvernunft, die da weiter wuchert? Ja, genau die ist es!! Denn was vernünftig, also gesund ist, das macht nicht automatisch auch glücklich. Gelingendes Leben? Immer ist da auch die Lust an der körperlichen, psychischen Selbststeigerung; immer ist da die Lust daran, Warnungen in die Luft zu schlagen; immer ist da ein durch nichts zu begründendes Vertrauen: Mir passiert bestimmt nichts.

Das sind Dinge, die den Menschen vielleicht sogar mehr ausmachen als rationale Einsichten. Höllisch, das. Und das Schönste! Solange nichts passiert … Wenn dann etwas passiert, bedeutet das im Grunde nichts. Dies ist eine absolut wertfreie Feststellung.

Das ZDF wird also aus dem bitteren Schicksal des Samuel Koch Konsequenzen ziehen. Aber jetzt von einem neuen Beleg für die Menschenverachtung des TV-Rummels zu sprechen, ein Verbot zu fordern und gegen den alten Kindskopf Gottschalk zu poltern – das ist unverbindlicher Moralismus, der gut klingt, aber nur wohlfeil ist. Wahrscheinlich sitzt Elfriede Jelinek schon an einem neuen Stück, das jenem Krieg, der Leistungssport heißt (»Sportstück«), eine weitere Botschaft hinterherhasst, die auch »Wetten, dass …?« in das allwaltende Prinzip imperialer Menschenausnutzerei einspeist. Soll sie, Hauptsache, »Thommy« wettet weiter.

Man kann geradezu neidisch sein auf die Unanfechtbaren mit ihrer systemkritischen Klarheit. Ich selber kann leider nicht moralischer sein als mein inkorrektes Bedürfnis: Ich mag Skifliegen (ohne Sicherheitsgurt); ich mag Bobrennen (ohne strafende Radarfallen unterwegs); ich mag harte Zweikämpfe beim Fußball; ich will zwar unbedingt die Gitter rund um die Löwennummer im Zirkus – aber innerhalb der Gitter sollte der Dompteur seinen Kopf bitteschön ins geöffnete Löwenmaul stecken; ich mag auch die gefährlichen Extremkünste eines Florian Hambüchen am Reck. Jedes dieser Ereignisse ist übrigens auch ein TV-Event und – wie »Wetten, dass …?« – Familienprogramm. Mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht von Gottschalk moderiert wird. Nicht immer ein Vorteil.

Es ist ein Irrtum anzunehmen, der verunglückte Samuel Koch hätte durch den TV-Apparat geschützt werden können. Niemand ist schützbar, der eines Tages von der Ahnung erfasst wird, er lebe verflucht unsinnlich, und also denkt er sich eine Gefahr aus. Wahre Sinnlichkeit träumt den Höhepunkt eines Übersichhinauswachsens und parallel dazu verdrängt sie kraftvoll das mögliche böse Scheitern. Höchstens denkt der wahre Träumer an Ikarus, dem als Einzigem noch der tödliche Sturz als Flug angerechnet wird. Toni Schumacher und Oliver Kahn waren auch deshalb Welttorhüter, weil sie ihren Beruf so extrem lebten, dass wir Zuschauer zwei unvereinbare Vorgänge gleichzeitig betrieben: hinschauen, weil sie sich derart hineinwarfen ins Harte, und wegschauen aus gleichem Grunde: weil sie sich derart hineinwarfen ins Harte.

Tollkühnheit gehört ins Fernsehen, weil wir selber uns nicht trauen, tollkühn zu sein. Gefahr gehört ins Fernsehen, damit wir uns morgen, übermorgen auch mal trauen. Aber mancher wird auch nur darin bestätigt, dass sein Leben vielleicht doch richtig sei: so bürgersam, regeltreu, berechenbar, überraschungskonsistent, absturzsicher, angstschweißperlenarm. Auch diese Wirkung hat was.

Wir sind nicht gelähmt und haben zu danken. Fällt uns dabei auf, wie bewegungslos wir durchs Dasein hüpfen? Essayist Arno Widmann in der »Berliner Zeitung« zum Unfall Kochs: »Natürlich fühlen wir Couchpotatoes uns bestätigt. Wir sind die Schlauen. Wir versuchen nichts Verrücktes. Wir machen, was erwartet wird. Wir gehen an keine Grenzen. Wir sind es, die Furcht haben vor der Furcht. Nicht Samuel Koch. Der hat sich ihr ausgesetzt. Er hat sein Ziel nicht erreicht. Jetzt sagen viele, er hätte sich keines setzen sollen. Nichts falscher als das. Wir täten gut daran, eine Utopie, wenn schon nicht der Gesellschaft, dann doch wenigstens unserer selbst zu haben.«

Das Entsetzen läutert. Für Momente. Dann kehren wir zu uns zurück. Die Nerven wollen gekitzelt sein, sie brauchen Menschen dafür, Menschen mit Wagemut. Diese Sehnsucht übersteht jede Tragödie. Wetten, dass ...?

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