Der schöpferische Zufall

Herbert Hörz und Rainer Thiel über materialistische Dialektik und allmähliche Revolution

  • Rolf Löther
  • Lesedauer: 5 Min.
Politisches Buch: Der schöpferische Zufall

Wie Friedrich Engels vermerkte, haben die Menschen dialektisch gedacht, lange ehe sie wussten, was Dialektik war, ebenso wie sie schon Prosa sprachen, lange ehe es den Ausdruck Prosa gab. Seit dem Altertum haben Philosophen sich damit beschäftigt, die dialektische Denkweise zu erforschen und sie lehr- und lernbar zu machen. Hegel, Marx und Engels markieren Höhepunkte des dialektischen Denkens, Stalin ihre Verunstaltung zum öden Schematismus, von dem sich die von Marx und Engels begründete materialistische Dialektik nur mühsam befreit.

Die Philosophen Herbert Hörz (Jg. 1933) und Rainer Thiel (Jg. 1930) tragen mit ihren Ergebnissen vieljähriger Forschungen dazu bei, Dialektik undogmatisch und wirklichkeitszugewandt zu betreiben und damit das Erkennen unserer Welt zu fördern, wie sie ist und wie sie werden kann, wenn sich Sachkenntnis, dialektisches Denken und Humanismus verbinden und in Handeln umsetzen.

Hörz hat es unternommen, eine systematische Gesamtdarstellung seines Dialektikverständnisses darzulegen. Dazu lässt er den Leser an zahlreichen internationalen Debatten über die Bedeutung der materialistischen Dialektik für die Untersuchung des komplizierten Geschehens in Natur, Gesellschaft und Kultur, im Denken und Sein teilnehmen. Seine Positionen weiß er mit Argumenten zu begründen und zu verteidigen. In der kapitalistischen Globalisierung, der rasanten wissenschaftlich-technischen Entwicklung, den Problemen demokratischer Strukturen und humanistischer Werte, den ökologischen Krisen und sozialen Verwerfungen sowie der Komplexität von Aufgaben und Entscheidungssituationen sieht er aktuelle Herausforderungen für dialektisches Denken. Das führt zur Frage »Was ist und kann Dialektik?«. Dabei setzt er sich mit der Ignoranz und der Diffamierung der Dialektik auseinander und geht auf ihre Geschichte seit der griechischen Antike ein. Er begreift die materialistische Dialektik als Einheit von Theorie, Methode und Methodologie und erläutert ihre Prinzipien und Grundgesetze.

Im dialektischen Determinismus, der philosophischen Theorie von der Bedingtheit und Bestimmtheit allen Geschehens, und in der philosophischen Entwicklungstheorie sieht der Autor die beiden wesentlichen Betsandteile der materialistischen Dialektik. In deren Darlegung entfaltet er die von ihm begründete statistische Gesetzeskonzeption mitsamt der Dialektik von Zufall und Notwendigkeit, Kausalität und Entscheidungsfreiheit. In naturwissenschaftlicher Hinsicht bezieht er sich hauptsächlich auf die Physik, von der Quantenphysik bis zu Chaos- und Selbstorganisationstheorien. Die philosophische Entwicklungstheorie wird zur Grundlage für Zukunftsentwürfe, die darauf basieren, dass die Zukunft zwar offen ist, doch Trendaussagen gestatten, nach denen sie human gestaltbar ist. So werden Zerfalls- und Stabilitätsszenarien für die Europäische Union untersucht und Gesellschaftsstrukturen im 21. Jahrhundert analysiert. Gedämpft optimistisch begründet der Verfasser die Möglichkeit einer zukünftigen Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten als Zukunftsvision. Wie dieser näher zukommen ist, zeigt Thiels Buch, das sich nicht zuletzt gegen landläufige Vorstellungen von sozialen Revolutionen richtet.

Liegen die philosophischen Interessen von Hörz bei der Ausarbeitung der materialistischen Dialektik primär beim dialektischen Determinismus und seinen Konsequenzen, kommt bei Thiel vorrangig ein anderes Kapitel materialistischer Dialektik zur Sprache: der gesetzmäßige Zusammenhang von quantitativen und qualitativen Veränderungen in den Vorgängen in Natur und Gesellschaft und das im politischen Denken umstrittene Verhältnis von so genannter Evolution bzw. Reformation und Revolution. Der Autor wendet sich gegen den verbreiteten Irrglauben an einen Gegensatz zwischen Evolution und Revolution, wobei Revolution ein »plötzlicher Sprung« in der Entwicklung sei, Evolution hingegen ein allmählicher, in kleinen Schritten verlaufender Vorgang (Gradualismus). Demgegenüber weist er nach, das jede quantitative Veränderung mit qualitativer Veränderung einhergeht und das Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative mit »Plötzlichkeit« überhaupt nichts zu tun hat, wohl aber mit der Nichtlinearität in allem Wandel.

Thiel begründet diese Klarstellung mit detaillierten Untersuchungen. Sie beginnen mit der Erklärung, wie der niederländische Graphiker M. C. Escher den überraschenden Effekt seiner Bilder erzeugte und wie sich das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen im Erfahrungsschatz deutscher Sprichwörter widerspiegelt. In zwölf Kapiteln werden Prozesse in Natur, Gesellschaft und Denken zum berühmten universellen Gesetz vom Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen in Beziehung gesetzt und analysiert, was »Umschlagen« heißt. Thiel reflektiert, was Hegel, Marx und Engels zum Thema dachten. Einfache Modelle und Einblendungen aus der mathematischen Chaos-Theorie, Blicke in die Physik der Phasenübergänge, in die Evolutionsbiologie und die Methodik des Erfindens ergänzen die Darstellung. Die klassische Frage »Evolution oder Revolution?« erweist sich dabei als Scheinfrage. Die traditionelle Alternative »Kapitalismus abschaffen oder reformieren?« war von Anfang an falsch. Sie beruht auf falschen philosophischen Annahmen, die nicht zuletzt durch missverständliche oder schlicht falsche Interpretationen der Schriften von Marx und Engels verbreitet wurden. Die Hartnäckigkeit der tradierten Denkmuster gründe sich zugleich auch darauf, dass beträchtliche Teile der Linken, vor allem in Deutschland, nicht aus ihren internen Zirkeln und Versammlungen herauskommen.

Mit der Bezugnahme auf Marx, für den »abstrakt strenge Grenzlinien ebenso wenig die Epochen der Gesellschafts- wie der Erdgeschichte scheiden«, betont Thiel die Allmählichkeit auch eines Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, und zwar vermittels qualitativen Wandels durch Reformen – Reformen, die nicht als Mittel zur Erhaltung oder Verschärfung bestehender Herrschaftsverhältnisse dienen, sondern mit denen Unterdrückte ihre Spielräume erweitern. Indem sie den Aufrechten Gang üben, wandeln sich ihre qualitativen Eigenschaften. Mit Konsequenzen für moderne linke Strategie aus den philosophischen Erörterungen schließt das Buch.

Beide Bücher sind keine Lehrbücher der Dialektik, aber Bücher, aus denen sich viel über Vergangenheit, Gegenwart und das Möglichkeitsfeld Zukunft lernen lässt und die zur dialektischen Denkarbeit herausfordern.

Herbert Hörz: Materialistische Dialektik. Aktuelles Denkinstrument zur Zukunftsgestaltung. Trafo Verlag, Berlin. 374 S., br., 34,80 €.
Rainer Thiel: Allmähliche Revolution – Tabu der Linken. Kai Homilius Verlag, Berlin. 271 S., br., 22,90 €.

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