Vollbusige Nazi-Dominas statt SS-Schergen

Dokumentarfilm »Pornografie & Holocaust« beschreibt bizarres Phänomen israelischer Popkultur

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.
Bilder wie das Heftcover von »Stalag 13« thematisiert »Pornografie & Holocaust« (Israel 2008, Kinostart: 30.12. 2010)
Bilder wie das Heftcover von »Stalag 13« thematisiert »Pornografie & Holocaust« (Israel 2008, Kinostart: 30.12. 2010)

Sie wären nicht viel mehr als ein bizarres Kapitel israelischer Pop-Kultur, wäre das Thema der Sechziger-Jahre-Schundhefte mit dem Begriff »Stalag« im Titel nicht die systematische Demütigung von Gefangenen in deutschen Lagern gewesen – durch vollbusige weibliche SS-Offiziere. Dass es die natürlich nie gab, dass es hier auch nicht um Konzentrationslager, sondern um die titelgebenden Stamm- oder Gefangenenlager ging und die missbrauchten und gefolterten Häftlinge nicht jüdische KZ-Insassen, sondern abgeschossene US-amerikanische oder britische Piloten sein sollten, die ihre Erfahrungen hier angeblich selbst schilderten, änderte nichts an ihrer Rezeption. An die Groschenhefte erinnert nun der israelische Dokumentarfilm »Pornografie & Holocaust«.

Die »Stalag«-Hefte waren Holocaust-Pornografie, die Identifikation ihrer jungen männlichen Leser mit den malträtierten Helden schlimmstenfalls ein besonders erstaunlicher Fall von Stockholm-Syndrom und bestenfalls eine stellvertretende Ermächtigungsfantasie. Denn die sexuell missbrauchten Gefangenen befreien sich am Ende und nehmen bittere Rache an den Nazi-Dominas. Dies war den Juden in den Konzentrationslagern nicht gelungen.

Die »Stalags« bedienten verbreitete Männer-Fantasien von dominierenden Frauen in Stiefeln, Lederkluft und Peitsche. Die Hefte verliehen mit den Identifikationsfiguren der letztlich siegreichen Gefangenen der kollektiven Erinnerung an den Holocaust ein alternatives Ende. Denn Vorlagen der sadistischen Nazi-Weiber mit ihren Hakenkreuz-Armbinden in den israelischen »Stalags« waren reale, für ihre Grausamkeit bekannte Aufseherinnen der Vernichtungslager. So fanden Holocaust-Wahrheit und sexuelle Fiktion zu einer Zeit zusammen, als die sexuelle Revolution für die prüde israelische Gesellschaft in weiter Ferne lag.

So konnte es passieren, dass die pubertierenden Söhne, Töchter und Enkel von Holocaust-Überlebenden ihre Fantasien mit reißerischen Groschenheftchen beflügelten, in denen Nazi-Schergen Gefangene missbrauchten und folterten. Das erste Heft, »Stalag 13«, erschien 1961 und verkaufte sich gleich 80 000 Mal. Das letzte namentlich im Film erwähnte »Ich war Oberst Schultzes Hündin« wurde 1962 als antisemitisch und pornografisch verboten und aus dem Verkehr gezogen.

Dass die Eckdaten des spektakulären Erfolgs der Heftchen mit den Eckdaten des Eichmann-Prozesses zusammenfielen, ist dabei wohl kein Zufall. Denn mit dem Eichmann-Prozess wurden grafische Details dessen, was die halbe Bevölkerung des Landes wenige Jahre zuvor mittelbar oder unmittelbar in Europa erlebt hatte, erstmals in diesem Umfang in Israel öffentlich geäußert. Die »Stalag«-Hefte lieferten ein Ventil, eine Ausflucht, eine Umkehrungsfantasie, ein pervertiertes Abbild der öffentlichen Enthüllungen. Damit brachen die Groschenromane gleich zwei Tabus. Erstmals gab es in der puritanischen Gesellschaft Israels pornografische Literatur und gleichzeitig waren die Heftchen neben dem Eichmann-Prozess die erste öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

Regisseur Ari Libsker fand Zeitschriftenhefte, die auf dem Titelblatt über den Prozess berichteten und auf der Rückseite den neuesten Beitrag der »Stalag«-Reihe bewarben. Er zeigt Ausschnitte aus so populären israelischen Unterhaltungsfilmen wie der »Eis am Stiel«-Reihe, in der »Stalag«-Hefte als Mittel intimer Aufklärung vorkommen. Er interviewte Holocaust-Überlebende, »Stalag«Sammler und Kulturforscher. Und er sprach mit einem der ersten Schreiber der Reihe, selbst Sohn einer Holocaust-Überlebenden, der zeitlebens unter den Traumata seiner Mutter zu leiden hatte – ein Israeli, der unter englischem Pseudonym und den grellbunten Titelblättern der »Stalag«-Reihe im Stil amerikanischer Pulp Fiction veröffentlichte.

Kein Pseudonym, sondern die ihm von den Nazis verpasste, entindividualisierte Identität hingegen der Name, unter dem Yehiel Feiner De-Nur seine nach Libskers Meinung nicht weniger fantastischen Augenzeugenberichte aus Auschwitz publizierte: die Bücher von Ka-Tzetnik 135633, KZ-Insasse 135633, Zeuge beim Eichmann-Prozess und selbst schwer von seinen Lagererfahrungen gezeichnet, sind Schulpflichtlektüre in Israel.

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