Die Geheimnisse des Hauses 2078

E. L. Doctorow: Zu seinem 80. Geburtstag erschien ein neuer Roman

  • Reinhard Helling
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden.« Zwei starke Sätze, mit denen E. L. Doctorow seinen neuen Roman »Homer & Langley« beginnt. Der US-Autor, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, hat sich zuerst als Lektor für verschiedene Verlage und als Professor für Literatur einen Namen gemacht. Als Verfasser eines beachtlichen Werkes und als kritische Stimme seiner Heimat genießt Edgar Lawrence Doctorow heute großes Ansehen. Bei uns wurde er vor allem durch die verfilmten Romanen »Ragtime« und »Billy Bathgate« bekannt.

Die Geschichte, die wir nun von »Amerikas literarischstem Historiker« (»New York Times«) zu lesen bekommen, basiert logischerweise nicht auf Anschauung. Dafür kommt der Satz »nach allem, was ich höre« ziemlich oft vor. Und wie es Doctorows bewährter Methode entspricht, hat die Geschichte einen wahren Kern – die Geschichte der »Hermits of Harlem«.

Diesen Namen bekamen zwei Brüder – Homer und Langley Collyer – die zu ihrer Zeit in New York Stadtgespräch waren. Der 1881 geborene Homer und sein vier Jahre jüngerer Bruder lebten in den letzten Jahren vor ihrem Tod im März 1947 völlig abgekapselt von der Welt in einer Stadtvilla am oberen Ende der Fifth Avenue, die sie von ihren wohlhabenden Eltern geerbt hatten. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte sich hier noch die bessere Gesellschaft getroffen. Aus Geiz und genialem Hochmut legte sich Langley im Laufe der Jahre mit allen Behörden und Versorgungsunternehmen an, sodass die beiden Brüder am Ende ohne Strom, Gas, Wasser und Telefon in ihrem selbst gewählten Gefängnis saßen.

Zweierlei machte sie für die Öffentlichkeit interessant und für die Zeitungen zur Story: Zum einen die Vermutung, dass sie hinter den runtergelassenen Rollläden auf ungeheurem Reichtum saßen, zum anderen das Gerücht, der sehende Bruder habe über alle vier Stockwerke Unmengen an Schrott zu einem gigantischen Labyrinth gestapelt. Die Vermutung war Quatsch, aber das Gerücht stimmte: Bei der Räumung des Hauses trug die Polizei mehr als 100 Tonnen Material heraus – darunter 25 000 Bücher, bergeweise Zeitungen aus drei Jahrzehnten, ein Dutzend Klaviere und sogar eine »Tin Lizzy«, ein Ford T-Modell!

Anders als die Reporter damals interessiert Doctorow nicht, wie die Brüder starben. Er will lieber eine Vorstellung davon geben, wie sie lebten – auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden. Dabei nimmt er sich allerlei schriftstellerische Freiheiten und lässt sie beispielsweise weit länger leben als in Wirklichkeit. So aber kann er das Abgleiten der Brüder in die soziale Isolation behutsam entwickeln und dabei gesellschaftliche Entwicklungen und Moden einbauen.

Anfangs war das Haus Nr. 2078 Fifth Avenue/ Ecke 128th Street nämlich ständig voller Menschen: Es kamen einfache Leute von der Straße, die Homer und Langley während der Prohibition zum Tanztee eingeladen hatten. Dazu gesellten sich Gangster, die den allein lebenden Brüdern Prostituierte wie Blumen schicken, Hippies, die das Haus als Basislager genossen, ein japanisch-amerikanisches Ehepaar, das sich als Kurator des Mülls betätigt, orthodoxe Juden, die eine Zuflucht suchen.

Der Roman liest sich von der ersten bis zur letzten Seite großartig und hat glücklicherweise nicht den Impetus einer Messie-Anklage. Besonders faszinierend ist das Kunststück, das E.L. Doctorow wie nebenbei gelingt: Er bringt – zumindest für den Leser – Licht in Homers Welt der Finsternis.

E. L. Doctorow: Homer & Langley. Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch. 224 S., geb., 18,95 €.

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