Doppelgänger

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

  • JÜRGEN SCHRÖDER
  • Lesedauer: 2 Min.

Was dem Amphitryon geschieht – die alptraumhafte Fleischwerdung schlimmster Eifersuchtsfantasien –, lässt sich am ehesten mit Worten Rudolf Kassners ermessen, der nicht nur eine tiefsinnige Doppelgänger-Geschichte geschrieben, sondern lebenslang über den Doppelgänger nachgedacht hat: »Der Doppelgänger ist der einzige, der uns die eigene Stelle streitig machen kann; er frisst dem Einzelnen das Leben weg; er ist der Fremde, der absolut Fremde und zugleich der nächste des Einzelnen.«

Kleists extreme Ausformung der erotischen und existenziellen Dreiecksgeschichte, die notwendig eine Eifersuchtsgeschichte mit sich führt, macht damit die verborgensten Gründe dieses überaus menschlichen Affekts, die ihm zugrunde liegenden Urängste sichtbar. Es ist ja, in den heutigen Jargon übersetzt, eine Horrorgeschichte: Da kommt einer ahnungslos (und sogar als Sieger!) nach Hause und findet seinen angestammten Platz besetzt von einem, der er selber ist in der allmächtigsten und vollkommensten Form. Stärker, schockartiger kann man die menschliche Urangst, überflüssig zu sein und keinen Platz in dieser Welt beanspruchen zu dürfen, kaum erfahren. Schrecklicher kann der Vergleich mit einem anderen, der fraglos und überlegen an unsere Stelle tritt, nicht mehr ausfallen. Denn jeder Nebenbuhler und Konkurrent ist mehr oder weniger auch unser Doppelgänger: Er usurpiert einen Platz, ja gerade jenen Platz, auf dem wir uns für ganz unersetzlich und unverwechselbar halten, durch den wir uns selber als Person definieren! Der Doppelgänger maßt sich an, uns nicht nur zu ersetzen, sondern uns auch besser zu vertreten als wir selbst.

(Aus: Jürgen Schröder: Kleists »Amphitryon« – Die Eifersucht der Doppelgänger, in: Erotik und Sexualität im Werk Kleists, hg. von Günter Emig, Heilbronn 2000)

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