PETER HACKS: Eigenterrorist

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

  • Lesedauer: 2 Min.

»Die Erscheinung, die am meisten, bei Betrachtung eines Kunstwerks, rührt, ist, dünkt mich, nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der es hervorbrachte, und der sich, in unbewußter Freiheit und Lieblichkeit, darin entfaltet.«
Aus den Briefen

Ich handle in diesem Aufsatz über die Gattungssorgen der Kunst und zumal der Literatur unter der Bedingung einer durchaus versumpften Zukunft. Wie, wenn die Menschheit zur Zeit eben nicht gerettet sein will, die Kunst retten? [...]

Eine ebenso unliterarische Antwort wie die der Terroristen ist die der Eigenterroristen, der Selbstmörder. Ich lasse die Verbraucher von Rauschgift oder Religion der Kürze halber beiseite und komme gleich zu denen, die sich selber rasch, nicht langsam, abgeschafft haben, Schriftstellern wie Kleist und Günderode, Jessenin und Majakowski. Sie sind alle von einem Typ.

Der Typ der Chattertonianer ist in der Regel jugendlich; er umfaßt überhaupt Leute, die zwar sämtlich den vermeinten Weltuntergang zur Erklärung ihres Entschlusses vorschoben, die sich aber auch ohne den vermeinten Weltuntergang würden umgebracht haben. Ihr Kummer war in Wahrheit ein endokriner Kummer.

Kleists ungewöhnlicher Selbstmordgrund war, daß sein König sich weigerte, einen Krieg anzufangen. Auch wer Kleist sehr wohlwill, wird zugeben, daß das nur ein Selbstmordmitgrund war. Der endokrine Kummer sucht sich seinen Weltkummer, um nicht zu unbedarft subjektiv dazustehn; das Ganze nennt sich dann Romantik. Alle dichtenden Selbstmörder gehören zur romantischen Richtung. Sie gehören zu derjenigen Richtung, die von vornherein aufgegeben hat, Kunst zu wollen oder zu vermögen, und sie sind ohne Wert für unsere Untersuchung.

Können Sie sich Goethe am Wannsee vorstellen?

Goethe war von der Gesellschaft als nicht betreffend empfunden und ausgesondert, weit unerbitterlicher als Kleist, der ja wenigstens literarisch zum Mehrheitsflügel zählte. Kleist ließ sich aussondern und erschoß sich. Goethe fuhr fort, sich zu verhalten, als gehöre er noch zur Gesellschaft dazu, und erschoß sich nicht. Feststeht, ein Dichter bringt sich nicht um. Es schickt sich nicht und hindert ihn beim Dichten.

(Und was in jeder Weltlage gegen den Tod spricht: Man kann dort nicht mehr rauchen). – Wenn aber der Dichter sich nicht umbringt, was dann tut oder versucht er?

(Aus: Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Die freudlose Wissenschaft. In: Peter Hacks, Werke, Bd. 13. Eulenspiegel Verlag, 2003)

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