Die Täter als Opfer

Prof. Werner Bergmann über Vergangenheit und die Folgen einer Debatte

Wie kaum eine Debatte zuvor hat der Streit um die Äußerungen des FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann und des Ex-Grünen Jamal Karsli den Antisemitismus zu einem öffentlichen Thema in der Bundesrepublik gemacht. ND hat den Soziologen Prof. Werner Bergmann über die Auswirkungen einer erhitzt geführten Diskussion befragt. Mit dem Experten vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung sprachen Velten Schäfer und Tom Strohschneider.

ND: Nach den Äußerungen von Jürgen W. Möllemann und Jamal Karsli ist zu fragen: Handelt es sich lediglich um Entgleisungen von Einzelnen oder die Boten eines verbreiteten Antisemitismus?
Die Ausgangsprobleme der Möllemann-Debatte sind der Nahost-Konflikt und die Art und Weise der Kritik an Israels Politik. Die Motive für Letzteres können vielfältig sein - eben auch antisemitisch. An den Äußerungen in der aktuellen Debatte lässt sich dies jedoch nur bedingt ablesen.

ND: Weil es schwierig ist, Kritik an Israel von Antisemitismus zu trennen?
Israels Politik mag man aus vielen Gründen kritisieren, etwa vom Standpunkt der Menschenrechte aus. Wenn aber Israel Nazimethoden unterstellt werden, wenn von »Holocaust« und »Vernichtungskrieg« die Rede ist, wird deutlich, dass es manchen eigentlich um etwas anderes geht als den Nahostkonflikt. Auch die Gleichsetzung der israelischen Politik mit »den Juden« ist eine antisemitische Grenzübertretung, die oft zu Spekulationen über angebliche kollektive Charakterzüge der Juden führt.

ND: Wie oft wird die Grenze überschritten?
Dazu gibt es keine Statistik. Wir können nur Aussagen über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen machen. Aktuelle Zahlen gehen von 15-20 Prozent der Bevölkerung aus. Darunter sind viele ältere Menschen, die Antisemitismus noch im Nationalsozialismus »erlernt« haben, aber öffentlich kaum aktiv werden.

Und doch haben bei den knapp 95000 in der Bundesrepublik lebenden Juden gerade in der letzten Zeit die Befürchtungen stark zugenommen.
Natürlich schürt eine hitzige öffentliche Debatte hier Ängste. Eine konkrete Gefahr geht für die Juden aber vor allem von Neonazis aus, in jüngster Zeit auch von arabischen Extremisten. Nach dem 11. September häuften sich in mehreren europäischen Ländern die Angriffe auf jüdische Einrichtungen - ein Zeichen dafür, dass sich der Nahost-Konflikt partiell auf europäischen Boden verlagert hat. Außerdem ist 2001 die bislang höchste Zahl antisemitischer Straftaten in der Bundesrepublik gezählt worden. Juden bekommen so viele Schmäh- und Drohbriefe wie lange nicht.
Auf der anderen Seite führt die Möllemann-Diskussion zu dem falschen Eindruck, als steige die Zahl der Antisemiten an. Im Vergleich zu 1991 haben wir es eher mit einem Rückgang antisemitischer Einstellungen zu tun. Untersuchungen zeigen, dass derzeit die Ablehnung gegenüber antisemitischen Äußerungen ebenso schärfer wird, wie die Zahl dieser Äußerungen steigt. Antisemiten und ihre Gegner äußern sich aktuell besonders pointiert in der Öffentlichkeit. Ich würde das eher als Polarisierung im Meinungsfeld beschreiben.

ND: Eskalationen im Nahen Osten haben schon früher Einfluss auf die deutschen Debatten gehabt. Gibt es Parallelen?
Auf den Libanon-Krieg und insbesondere auf die Ereignisse von Sabra und Shatilla reagierten viele Deutsche und andere Europäer mit einer ähnlich kritischen Wendung gegen Israels Politik wie heute. Das heißt, die Meinung zu Israel hängt stark von den politischen Gegebenheiten ab, und zwar deutlich mehr als die Verbreitung antisemitischer Einstellungen. Als Israel im Jom-Kippur-Krieg 1973 in Gefahr geriet, nahmen viele Westdeutsche Partei für Israel. Ein paar Wochen später, als Israel den Krieg gewonnen hatte, nahm ihre Zahl wieder ab.

ND: Eines der gängigsten Argumente der letzten Wochen ist, Israel dürfe nicht kritisiert werden, weil das sofort zum Vorwurf führe, Antisemit zu sein.
Hier wird ein Tabu aufgebaut, um es danach demonstrativ zu brechen, obgleich es nie bestand. Die Attitüde des »Tabubrechers« hat sich der FDP-Vize von Le Pen, Fortuyn und Haider abgeschaut. Möllemann hat den Antisemitismus wohl eher zufällig aufgegriffen. Er hätte auch andere Ressentiments »nutzen« können, etwa rassistische oder sozialchauvinistische.

ND: Das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt (Main) hat festgestellt, dass wieder mehr Deutsche Juden als »unangenehm« empfinden. Andererseits ist die jüdische Gemeinde in Deutschland sehr klein. Woraus bezieht dieser »Antisemitismus ohne Juden« seine Kraft?
Die Ablehnung der Juden als Gruppe im Alltagsleben spielt kaum eine Rolle. Zuletzt hat nur ein Prozent der Befragten erklärt, keine Juden als Nachbarn zu wünschen - es gab Zeiten, in denen zwischen 8 und 10 Prozent in diesem Sinne antworteten. Die meisten wissen auch gar nichts vom jüdischen Leben. Gegenüber Einwanderern wie Türken oder Sinti und Roma ist eine solche Ablehnung wesentlich häufiger anzutreffen. Auch die Verbreitung traditioneller Vorurteile gegen Juden ist zurückgegangen. Eine Studie, die vergangenes Jahr mit Studenten in Essen gemacht wurde, hat im Ganzen nur eine sehr geringe Zustimmung zu herkömmlichen antisemitischen Zuschreibungen wie Hartherzigkeit, wirtschaftliche Ausbeutung, usw. ergeben.
Anders sieht das allerdings bei den Themen Vergangenheitsbewältigung und Folgen des Holocaust aus, etwa hinsichtlich des Vorwurfs »die Juden würden den Holocaust zu ihrem Vorteil instrumentalisieren«. Das stützt unsere schon 15 Jahre alte Hypothese, dass sich der Antisemitismus kaum noch aus sozialen Konflikten speist. Die Basis des Antisemitismus in Deutschland ist heute mehr in den Problemen vieler Deutscher mit NS-Vergangenheit, insbesondere zu den von ihnen begangenen Verbrechen an den Juden zu suchen.

ND: Es geht also an erster Stelle um einen »sekundären Antisemitismus«?
Ja. Viele Menschen brauchen die Identifikation mit einer Nation, um sich ihrer selbst zu versichern. Wenn sich dieser Nationalismus beständig durch die Erinnerung an die NS-Vergangenheit verletzt fühlt, führt dies zur Ablehnung derer, die diese Erinnerung symbolisieren. Die Täter machen sich dann selbst zu Opfern, um der Verantwortung für ihre Taten zu entgehen. Dazu gehört es, die Verbrechen in unterschiedlichem Maße - von der Holocaust-Lüge bis zum Aufrechnen mit den Verbrechen anderer - zu relativieren.

ND: Kann der Antisemitismus also auch politisch instrumentalisiert werden, indem ohne eigene Vorurteile auf die Ressentiments anderer spekuliert wird - eventuell sogar, um Wahlen zu gewinnen?
Das wird zwar ab und zu versucht, aber doch ohne Erfolg. Man sieht das aktuell an den Umfrageergebnissen der FDP: Wähler aus der so genannten Mitte wenden sich ab und am rechten Rand sind so viele Stimmen nicht zu holen. Zudem: Antisemiten gibt es unter den Wählern aller Parteien, Antisemitismus ist kein Wahlmotiv - außer vielleicht bei den Rechtsaußen-Parteien. Die bereits angesprochenen 20 Prozent finden sich genauso unter den Wählern der CDU wie in der SPD und der FDP. Unter denen der Grünen und der PDS sind - nach Zahlen von 1996 - Antisemiten unterdurchschnittlich vertreten.

ND: Gibt es Ost-West-Unterschiede?
Die Ostdeutschen sind generell weniger antisemitisch eingestellt. Das war Anfang der 90er Jahre besonders stark zu sehen, etwa im Verhältnis eins zu vier im Westen. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat dieser Unterschied allerdings abgenommen. Jugendstudien haben dagegen ein völlig entgegengesetztes Bild gezeigt, nach dem Antisemitismus im Osten deutlich stärker verbreitet ist als im Westen. Jugendliche im Osten übernehmen Antisemitismus als einen Teil von Fremdenfeindlichkeit, und die hat im Osten eine größere Verbreitung als im Westen. Bei den Älteren im Osten scheint der Antisemitismus dagegen von der Fremdenfeindlichkeit abgespalten zu sein. Das mag daran liegen, dass das Verhältnis zu den Juden im historischen Kontext anders erlernt worden ist: Der Faschismus ist schlecht und damit auch der Antisemitismus als ein Teil desselben. Der im Westen verbreitete Zusammenhang zwischen Vergangenheitsbewältigung, Ablehnung einer historischen Schuld und Antisemitismus war in der DDR kaum zu beobachten. Es scheint aber, als würde der »sekundäre« Antisemitismus jetzt, da auch die Ostdeutschen sich als »beschuldigt« zu betrachten beginnen, in der ehemaligen DDR Fuß fassen.

ND: Paul Spiegel hat einen Aufstand der Demokraten gefordert. Zu welchen Strategien ist gegen Antisemitismus zu raten?
Die Einstellungen sind sehr stabil. Einmal erworben, werden sie in der Regel schwer wieder verlernt. Daher ist es wichtig, bereits frühzeitig in der Schule und der Erziehung Kontrapunkte gegen Antisemitismus zu setzen. Diese darf jedoch nicht ausschließlich das Vorurteil bekämpfen, sondern muss auch positive Akzente setzen, etwa durch den Kontakt mit der jüdischen Religion, der Geschichte, dem Alltag. Unter den Bedingungen demokratischer Erziehung und liberaler Bildung hat Antisemitismus langsam abgenommen. Eine geringe Verbreitung von Antisemitismus lässt sich in pluralistischen Gesellschaften wohl nicht verhindern. Es wird immer Menschen geben, die bei individuell erfahrenen Problemen auf eine vermeintliche Macht zeigen, die für allerlei Übel verantwortlich sein soll. Manche glauben an eine »jüdische Weltverschwörung«, andere setzen da den Kommunismus oder die USA ein.

Forschungszentrum
Das 1982 gegründete Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Uni Berlin ist die einzige Einrichtung ihrer Art in Europa. Bereits 1978 hatten der Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde Heinz Galinski und der damalige TU-Präsident Rolf Berger die Idee für ein solches Forschungszentrum. Neben interdisziplinärer Grundlagenforschung zum Antisemitismus stehen die deutsch-jüdische Geschichte und die Holocaustforschung auf der Agenda des ZfA. Als Gründungsdirektor nahm Herbert A. Strauss von der City University (New York) die Arbeit auf.
Das ZfA versteht sich zudem auch als zentrale Schnittstelle für übergreifende Forschungen zu Vorurteil und Diskriminierung. In die Arbeit werden so auch Themen wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einbezogen. Seit 1999 existiert eine »Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus« am ZfA. Darüber hinaus hat das Zentrum in Verfahren wie gegen den des Mordes an Juden beschuldigten John Demjanuk oder im Prozess gegen den SS-Mörder Klaus Barbie (beide 1987) Gutachten erstellt.
Seit 1997 befasst sich ein Forschungsprojekt mit der »Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland« - auf Initiative des Vereins »Gegen Vergessen - Für Demokratie«.

Im Internet: www.tu-berlin.de/~zfa/ND: Nach den Äußerungen von Jürgen W. Möllemann und Jamal Karsli ist zu fragen: Handelt es sich lediglich um Entgleisungen von Einzelnen oder die Boten eines verbreiteten Antisemitismus?
Die Ausgangsprobleme der Möllemann-Debatte sind der Nahost-Konflikt und die Art und Weise der Kritik an Israels Politik. Die Motive für Letzteres können vielfältig sein - eben auch antisemitisch. An den Äußerungen in der aktuellen Debatte lässt sich dies jedoch nur bedingt ablesen.

ND: Weil es schwierig ist, Kritik an Israel von Antisemitismus zu trennen?
Israels Politik mag man aus vielen Gründen kritisieren, etwa vom Standpunkt der Menschenrechte aus. Wenn aber Israel Nazimethoden unterstellt werden, wenn von »Holocaust« und »Vernichtungskrieg« die Rede ist, wird deutlich, dass es manchen eigentlich um etwas anderes geht als den Nahostkonflikt. Auch die Gleichsetzung der israelischen Politik mit »den Juden« ist eine antisemitische Grenzübertretung, die oft zu Spekulationen über angebliche kollektive Charakterzüge der Juden führt.

ND: Wie oft wird die Grenze überschritten?
Dazu gibt es keine Statistik. Wir können nur Aussagen über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen machen. Aktuelle Zahlen gehen von 15-20 Prozent der Bevölkerung aus. Darunter sind viele ältere Menschen, die Antisemitismus noch im Nationalsozialismus »erlernt« haben, aber öffentlich kaum aktiv werden.

Und doch haben bei den knapp 95000 in der Bundesrepublik lebenden Juden gerade in der letzten Zeit die Befürchtungen stark zugenommen.
Natürlich schürt eine hitzige öffentliche Debatte hier Ängste. Eine konkrete Gefahr geht für die Juden aber vor allem von Neonazis aus, in jüngster Zeit auch von arabischen Extremisten. Nach dem 11. September häuften sich in mehreren europäischen Ländern die Angriffe auf jüdische Einrichtungen - ein Zeichen dafür, dass sich der Nahost-Konflikt partiell auf europäischen Boden verlagert hat. Außerdem ist 2001 die bislang höchste Zahl antisemitischer Straftaten in der Bundesrepublik gezählt worden. Juden bekommen so viele Schmäh- und Drohbriefe wie lange nicht.
Auf der anderen Seite führt die Möllemann-Diskussion zu dem falschen Eindruck, als steige die Zahl der Antisemiten an. Im Vergleich zu 1991 haben wir es eher mit einem Rückgang antisemitischer Einstellungen zu tun. Untersuchungen zeigen, dass derzeit die Ablehnung gegenüber antisemitischen Äußerungen ebenso schärfer wird, wie die Zahl dieser Äußerungen steigt. Antisemiten und ihre Gegner äußern sich aktuell besonders pointiert in der Öffentlichkeit. Ich würde das eher als Polarisierung im Meinungsfeld beschreiben.

ND: Eskalationen im Nahen Osten haben schon früher Einfluss auf die deutschen Debatten gehabt. Gibt es Parallelen?
Auf den Libanon-Krieg und insbesondere auf die Ereignisse von Sabra und Shatilla reagierten viele Deutsche und andere Europäer mit einer ähnlich kritischen Wendung gegen Israels Politik wie heute. Das heißt, die Meinung zu Israel hängt stark von den politischen Gegebenheiten ab, und zwar deutlich mehr als die Verbreitung antisemitischer Einstellungen. Als Israel im Jom-Kippur-Krieg 1973 in Gefahr geriet, nahmen viele Westdeutsche Partei für Israel. Ein paar Wochen später, als Israel den Krieg gewonnen hatte, nahm ihre Zahl wieder ab.

ND: Eines der gängigsten Argumente der letzten Wochen ist, Israel dürfe nicht kritisiert werden, weil das sofort zum Vorwurf führe, Antisemit zu sein.
Hier wird ein Tabu aufgebaut, um es danach demonstrativ zu brechen, obgleich es nie bestand. Die Attitüde des »Tabubrechers« hat sich der FDP-Vize von Le Pen, Fortuyn und Haider abgeschaut. Möllemann hat den Antisemitismus wohl eher zufällig aufgegriffen. Er hätte auch andere Ressentiments »nutzen« können, etwa rassistische oder sozialchauvinistische.

ND: Das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt (Main) hat festgestellt, dass wieder mehr Deutsche Juden als »unangenehm« empfinden. Andererseits ist die jüdische Gemeinde in Deutschland sehr klein. Woraus bezieht dieser »Antisemitismus ohne Juden« seine Kraft?
Die Ablehnung der Juden als Gruppe im Alltagsleben spielt kaum eine Rolle. Zuletzt hat nur ein Prozent der Befragten erklärt, keine Juden als Nachbarn zu wünschen - es gab Zeiten, in denen zwischen 8 und 10 Prozent in diesem Sinne antworteten. Die meisten wissen auch gar nichts vom jüdischen Leben. Gegenüber Einwanderern wie Türken oder Sinti und Roma ist eine solche Ablehnung wesentlich häufiger anzutreffen. Auch die Verbreitung traditioneller Vorurteile gegen Juden ist zurückgegangen. Eine Studie, die vergangenes Jahr mit Studenten in Essen gemacht wurde, hat im Ganzen nur eine sehr geringe Zustimmung zu herkömmlichen antisemitischen Zuschreibungen wie Hartherzigkeit, wirtschaftliche Ausbeutung, usw. ergeben.
Anders sieht das allerdings bei den Themen Vergangenheitsbewältigung und Folgen des Holocaust aus, etwa hinsichtlich des Vorwurfs »die Juden würden den Holocaust zu ihrem Vorteil instrumentalisieren«. Das stützt unsere schon 15 Jahre alte Hypothese, dass sich der Antisemitismus kaum noch aus sozialen Konflikten speist. Die Basis des Antisemitismus in Deutschland ist heute mehr in den Problemen vieler Deutscher mit NS-Vergangenheit, insbesondere zu den von ihnen begangenen Verbrechen an den Juden zu suchen.

ND: Es geht also an erster Stelle um einen »sekundären Antisemitismus«?
Ja. Viele Menschen brauchen die Identifikation mit einer Nation, um sich ihrer selbst zu versichern. Wenn sich dieser Nationalismus beständig durch die Erinnerung an die NS-Vergangenheit verletzt fühlt, führt dies zur Ablehnung derer, die diese Erinnerung symbolisieren. Die Täter machen sich dann selbst zu Opfern, um der Verantwortung für ihre Taten zu entgehen. Dazu gehört es, die Verbrechen in unterschiedlichem Maße - von der Holocaust-Lüge bis zum Aufrechnen mit den Verbrechen anderer - zu relativieren.

ND: Kann der Antisemitismus also auch politisch instrumentalisiert werden, indem ohne eigene Vorurteile auf die Ressentiments anderer spekuliert wird - eventuell sogar, um Wahlen zu gewinnen?
Das wird zwar ab und zu versucht, aber doch ohne Erfolg. Man sieht das aktuell an den Umfrageergebnissen der FDP: Wähler aus der so genannten Mitte wenden sich ab und am rechten Rand sind so viele Stimmen nicht zu holen. Zudem: Antisemiten gibt es unter den Wählern aller Parteien, Antisemitismus ist kein Wahlmotiv - außer vielleicht bei den Rechtsaußen-Parteien. Die bereits angesprochenen 20 Prozent finden sich genauso unter den Wählern der CDU wie in der SPD und der FDP. Unter denen der Grünen und der PDS sind - nach Zahlen von 1996 - Antisemiten unterdurchschnittlich vertreten.

ND: Gibt es Ost-West-Unterschiede?
Die Ostdeutschen sind generell weniger antisemitisch eingestellt. Das war Anfang der 90er Jahre besonders stark zu sehen, etwa im Verhältnis eins zu vier im Westen. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat dieser Unterschied allerdings abgenommen. Jugendstudien haben dagegen ein völlig entgegengesetztes Bild gezeigt, nach dem Antisemitismus im Osten deutlich stärker verbreitet ist als im Westen. Jugendliche im Osten übernehmen Antisemitismus als einen Teil von Fremdenfeindlichkeit, und die hat im Osten eine größere Verbreitung als im Westen. Bei den Älteren im Osten scheint der Antisemitismus dagegen von der Fremdenfeindlichkeit abgespalten zu sein. Das mag daran liegen, dass das Verhältnis zu den Juden im historischen Kontext anders erlernt worden ist: Der Faschismus ist schlecht und damit auch der Antisemitismus als ein Teil desselben. Der im Westen verbreitete Zusammenhang zwischen Vergangenheitsbewältigung, Ablehnung einer historischen Schuld und Antisemitismus war in der DDR kaum zu beobachten. Es scheint aber, als würde der »sekundäre« Antisemitismus jetzt, da auch die Ostdeutschen sich als »beschuldigt« zu betrachten beginnen, in der ehemaligen DDR Fuß fassen.

ND: Paul Spiegel hat einen Aufstand der Demokraten gefordert. Zu welchen Strategien ist gegen Antisemitismus zu raten?
Die Einstellungen sind sehr stabil. Einmal erworben, werden sie in der Regel schwer wieder verlernt. Daher ist es wichtig, bereits frühzeitig in der Schule und der Erziehung Kontrapunkte gegen Antisemitismus zu setzen. Diese darf jedoch nicht ausschließlich das Vorurteil bekämpfen, sondern muss auch positive Akzente setzen, etwa durch den Kontakt mit der jüdischen Religion, der Geschichte, dem Alltag. Unter den Bedingungen demokratischer Erziehung und liberaler Bildung hat Antisemitismus langsam abgenommen. Eine geringe Verbreitung von Antisemitismus lässt sich in pluralistischen Gesellschaften wohl nicht verhindern. Es wird immer Menschen geben, die bei individuell erfahrenen Problemen auf eine vermeintliche Macht zeigen, die für allerlei Übel verantwortlich sein soll. Manche glauben an eine »jüdische Weltverschwörung«, andere setzen da den Kommunismus oder die USA ein.

Forschungszentrum
Das 1982 gegründete Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Uni Berlin ist die einzige Einrichtung ihrer Art in Europa. Bereits 1978 hatten der Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde Heinz Galinski und der damalige TU-Präsident Rolf Berger die Idee für ein solches Forschungszentrum. Neben interdisziplinärer Grundlagenforschung zum Antisemitismus stehen die deutsch-jüdische Geschichte und die Holocaustforschung auf der Agenda des ZfA. Als Gründungsdirektor nahm Herbert A. Strauss von der City University (New York) die Arbeit auf.
Das ZfA versteht sich zudem auch als zentrale Schnittstelle für übergreifende Forschungen zu Vorurteil und Diskriminierung. In die Arbeit werden so auch Themen wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einbezogen. Seit 1999 existiert eine »Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus« am ZfA. Darüber hinaus hat das Zentrum in Verfahren wie gegen den des Mordes an Juden beschuldigten John Demjanuk oder im Prozess gegen den SS-Mörder Klaus Barbie (beide 1987) Gutachten erstellt.
Seit 1997 befasst sich ein Forschungsprojekt mit der »Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland« - auf Initiative des Vereins »Gegen Vergessen - Für Demokratie«.

Im Internet: www.tu-berlin.de/~zfa/

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