Theater soll mir das Gefühl nehmen, ich sei der bessere Mensch

Regisseurin Karin Beier über die Weiblichkeit des Stadttheaters, westlichen Fundamentalismus und Schafe in Schottland

Karin Beier gehört zu den wichtigen Theaterregisseurinnen ihrer Generation. Sie wurde 1965 in Köln geboren. Studium der Anglistik. Ab 1992 eigene Arbeiten: u.a. in Düsseldorf (»Die 25. Stunde« von George Tabori, deutsche Erstaufführung, und »Romeo und Julia« von Shakespeare, Einladung zum Theatertreffen Berlin 1994 und beste Nachwuchsregisseurin des Jahres, in Hannover, in Bonn. Ab 1995 am Schauspielhaus Hamburg. 1995 erarbeitete sie mit 14 Schauspielern aus neun Ländern eine Aufsehen erregende mehrsprachige Inszenierung des »Sommernachtstraumes« von William Shakespeare (Einladung zum Theatertreffen). Am Schauspiel Köln 1997: »Der Sturm« von William Shakespeare (ebenfalls mehrsprachig). Ebenfalls 1997 erste Operninszenierung (»Carmen« von George Bizet in Bremen). Regie am Burgtheater Wien: »Merlin« von Tankred Dorst (1999) und »Mit Leidenschaften ist nicht zu spaßen« von Luigi Pirandello (2000). Karin Beiers Vater war Lehrer, die Mutter arbeitete in einem Studienkolleg.


ND: Karin Beier, was meinen Sie, wie weiblich ist das deutsche Stadttheater?

Mich interessiert dieses Problem nicht sonderlich. Wahrscheinlich, weil ich in der Hinsicht nie einen Konflikt gespürt habe. Wie weiblich das Theater ist - die Frage ist für mich nur insofern von Belang, als es um einen anderen Inszenierungsblick auf weibliche Figuren gehen könnte. Vielleicht eine spezielle Aufmerksamkeit, eine andere Gewichtung.

ND: Es gibt in Ihrem Beruf aber eine zweifelhafte Dominanz männlicher Eigenschaften, im Sinne dessen, was Hannah Arendt sagte: »Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt.«

Wer erteilt denn in diesem Beruf, wenn er erfolgreich sein will, Befehle! Ich fühle mich als Regisseurin unter anderem verantwortlich für das Arbeitsklima, und das geht nicht über Befehle.

ND: Die Erotik der Macht ist unweiblich.

Bei der Führung von Menschen wird einem Mann mehr zugetraut, und das sicher auch im ambivalenten Sinne des Wortes: Dem traue ich alles zu. Dass größere Konfliktfreudigkeit und unbedingte Ehrlichkeit beim Austragen eines Konflikts männliche Tugenden seien, das wage ich zu bezweifeln.

ND: Therese Giehse sagte: »Frauen sind häufig viel stärker begabt als Männer, sie sehen besser, haben die frecheren Augen, gucken genauer hin. Aber bei einer Frau als Regisseur arbeiten alle nur mit halbem Einsatz und lächerlich übersteigertem Unwillen. Da muss man schon sehr robust und standhaft sein, um so viel Borniertheit durchzustehen.«

Regisseurinnen wie Andrea Breth oder Elke Lang mussten sicherlich noch anders kämpfen, als wir das heute müssen. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns in ein gemachtes Nest setzen konnten. Ich mag feministische Freudlosigkeit und Militanz überhaupt nicht, aber ich weiß durchaus zu schätzen, dass Feministinnen beim Aufbrechen von gesellschaftlichen Strukturen zum Nutzen der Frauen eine große Arbeit geleistet haben, eine Arbeit, von deren Resultaten wir heute ganz selbstverständlich profitieren. Und was Therese Giehse feststellt: Ich kann bei Schauspielern, mit denen ich arbeite, keinen halben Einsatz entdecken und auch keinen lächerlich übersteigerten Unwillen. Wir sollten wirklich das Thema wechseln.
Das Thema ist: das Stadttheater. Der Dramaturg Thomas Wieck schrieb in »Theater der Zeit«: Wem an Veränderungen am Stadttheater gelegen sei, »der warte auf das endgültige Versiegen des Subventionshahns. Die einmalige Chance, ein modernes Theatersystem in Deutschland zu etablieren, ist 89/90 vertan worden und zwar im Osten, dort, wo mit serviler Eilfertigkeit der Teppich ausgerollt wurde für den Empfang diverser Auslaufmodelle«. Das Denkschema der deutschen Theaterleute, so Wieck, sei davon bestimmt, dass die Kommunen die unaufkündbare Verpflichtung eingegangen seien, das Stadttheatersystem in seiner fortwährenden, unbezweifelbaren Existenz zu sichern. So entwickelten sich beamtene Denkweisen: »Der Bedienstete dient«.
Das jetzt bestehende System wird nicht lange überleben, hoffentlich jedenfalls. Denn bis zu 90 Prozent der Subventionen innerhalb des Betriebes sind nicht bewegbar. Und jener kleine bewegliche Anteil der Subventionen, der den künstlerischen Bereich abdecken soll, wird weiter eingeschränkt. Deshalb steckt das Theater in der Erstarrung. Irgendwann funktioniert der Betrieb zwar noch gut - nur wird halt kein Theater mehr gespielt. Schauen Sie sich in vielen Schauspielhäusern um: Samstags sind sie geschlossen oder im Großen Haus werden überhaupt nur zehn Vorstellungen pro Monat gegeben. Und das, weil die Umbauten von Probe auf Vorstellung nicht mehr geleistet werden können. Das ist grotesk. Wirklich, ich kann nur hoffen, dass das zusammenbricht.

ND: Sie sägen am Ast, auf dem Sie sitzen.

Nein. Mir macht diese Prognose keine Angst. Ich habe lange genug in der freien Szene gearbeitet. Mich hindert nichts, woanders zu spielen. Wenn das Stadttheater einkracht - das Theater überlebt doch auf jeden Fall.

ND: Das Gefühl, wenn man als Zuschauer das erste Mal ein Theatererlebnis hat - wie beschreiben Sie das Ihre?

Vielleicht hat es mit Winter zu tun, mit dem ersten Schnee, denn es war im Winter, als ich das erste Mal ins Theater ging. Ich kam danach raus, es war dunkel, und ich befand mich weiterhin in so einer Art Glocke. Auch im Sommer hatte ich dieses Gefühl und spürte die Glocke. Theater hatte etwas in mir berührt, was ich damals noch nicht genau benennen konnte. Es war aber keineswegs nur etwas Emotionales, es hatte stark mit Irritation und Nachdenken zu tun.

ND: Und Sie beschlossen: Ich muss ans Theater!

Ja - aber als was? Zunächst, natürlich, war da der Traum von der Schauspielerei. In den Sommerferien damals gab es für Schüler Austauschplätze in einer englischen Grafschaft, dort existierte ein Schultheater, im ersten Jahr spielte ich mit, im »Sommernachtstraum«, im zweiten Jahr war ich »schon« Regieassistentin, und so habe ich mich noch vor dem Abitur zu etwas anderem entschlossen, was mit präpotenter Arroganz zu tun hatte: Ich werde Regisseurin! Irrtümlicherweise dachte ich, das ginge nur übers Schauspielstudium, bei der Aufnahmeprüfung bin ich mit Karacho durchgefallen: Ich sei unbegabt. Also bliebe, so meinte ich, nur der Weg über die Wissenschaft. In Köln während des Studiums bin ich dann zu einem Dozenten der Anglistik gegangen und habe gesagt, ich wolle im Englischseminar eine Theatergruppe gründen, die Shakespeare in Originalsprache aufführt. So entstand die freie Gruppe »Countercheck Quarrelsome«. Wir waren wunderbar naiv. Alle Mitarbeiter hatten ein T-Shirt, darauf stand vorn, unter einem Shakespeare-Kopf: »We'll do them all«; leider haben wir nur neun Stücke geschafft. Hinten war zu lesen: »The only serious Choice«.

ND: Shakespeare im Original. Sie sind zweisprachig aufgewachsen. Ihre Mutter ist Engländerin.

Ja.

ND: Rasend schnell, mit zwei Arbeiten, kamen Sie zum Theatertreffen nach Berlin.

Das hat mich schockiert. Ich hatte doch in der freien Szene nicht so viel anders gearbeitet - wieso nun plötzlich diese Beachtung? Nur weil ich irgendwann am Stadttheater war? Bis dahin war auch jede Inszenierung für mich ein Ausnahmezustand gewesen, jetzt gingen die Dinge rasend ineinander über. Dieses Tempo bedrückte mich, und irgendwann wollte ich weg. Der Kokon des Heiligen war zerrissen, und ich hatte erstmalig eine böse Ahnung: Wenn du das jahrelang so betreibst, dann geht irgendwann die Aura des Besonderen verloren. Man rutscht in die Gewöhnung hinein, die tötet alle Lust, etwas anderes als das Bisherige auszuprobieren, und weil man sich selbst am leichtesten betrügt, verwechselt man seine Routine trotzig mit Kunst.

ND: Die Kritik schrieb von Spektakel, verblüffendem Jahrmarktstheater, drastischer Komik, körperlicher Sprachmelodie, großem Lustgewinn an klassischer Textur. »Theater heute« bezeichnete Sie als »Shakespeare-Prophetin von europäischem Format«.

Erst sehr langsam habe ich Selbstbewusstsein gewonnen; diese erste Zeit, in der ich das Gefühl von Fremdbestimmung hatte, wollte ich nie wieder erleben. Man versucht dann ja, im Drachenblut zu baden, man möchte am liebsten sehr unempfindlich werden.

ND: Ist das eine Warnung an junge Leute?

Ach, Warnung ... Ich maße mir das nicht an. Da muss jeder seine Erfahrung machen. Nur geht eben die Tendenz dahin, dass schon ein Rudiment an Talent ausreicht, um an großen Häusern engagiert zu werden. Und: Je jünger, desto besser. Geschieht alles nur auffällig und absonderlich genug, freut sich das Feuilleton.

ND: Karin Beier, im Jahre 1999 inszenierten Sie am Deutschen Schauspielhaus Hamburg »Futur Zwei«, Untertitel: »Fragmente - Seelenauswürfe - Blutgerinnsel des 20. Jahrhunderts«. Es war kein Stück, sondern ein Projekt. Es war der Versuch, mit unkonventioneller Spielenergie Gegenwart aufs Theater zu holen.

Uns interessierte: Wie lässt sich das Bild jener Generation der Endzwanziger und Anfangsdreißiger erfassen, die als Generation der prononcierten Ziellosigkeit gilt? Es ist eine Generation, der fehlende Identität zu einem Vorwurf gemacht wird. Aber diese Generation X hat genau diese fehlende Verwurzelung, diese Aufkündigung fremder Zusammenhänge zu ihrer eigentlichen Identität erklärt. Diese jungen Leute mögen nach dem Urteil der Älteren träge, unzufrieden, rauschhaft unzuverlässig und sprunghaft sein, nur tun sie uns nicht den Gefallen, das betrüblich und verwerflich zu finden. Sie haben nicht das negative Lebensgefühl, das ihnen Ältere, aus dem Blickwinkel einer anderen Moral, so gern und vorwurfsvoll nachsagen. Sie wollen nicht Strukturen festsetzen, sondern Strukturen auflösen.

ND: Nun kann die Lockerheit von Lebens- und Äußerungsformen ja durchaus kritisch als Verlust von Konzentration und Wesentlichkeit gewertet werden.

Diese jungen Leute sehen darin einen Gewinn, sie entwickeln eine ganz selbstverständliche Ironie. Natürlich müsste es schön sein, etwas außerhalb seiner selbst zu haben, an das man glauben kann, etwas Absolutes. Ist aber nicht. Keine Ikone, kein Gott, keine Ideologie, keine Familienbande - statt dessen haben sich diese jungen Menschen, mehr aus Versehen eigentlich, dafür entschieden, das Leben als Spiel zu begreifen ...

ND: Wie sind Sie selber mit dem Thema »Achtundsechzig« umgegangen, unter dem Aspekt einer Generation, die im Vergleich dazu gemäßigt aufwuchs?

Mit zwanzig habe ich mich sehr mit der RAF auseinandergesetzt, habe sehr viele Bücher darüber gelesen. Ich erinnere mich an ein Gefühl von Neid. Alle Energie dieser Menschen damals hatte einen Kanal, in dem sie langfegen konnte, auf ein Ziel zu, das gut schien, an das keine Zweifel geknüpft waren, das die Welt in Gut und Böse teilte. Dieses fast noch kindliche Verlustempfinden über ein gesellschaftliches Ziel habe ich natürlich längst nicht mehr. Ich bin relativ glücklich. Aber ich denke, ich bin keine typische Vertreterin meiner Generation. Relativ früh hatte ich meinen Elfenbeinturm. Theater ist der zentrale Inhalt, der mich den Leuten verbindet, die mich umgeben - ich fühle mich aufgehoben und abgefedert.

ND: Wie kann Glück gelingen im allseits Gemäßigten?

Man hat als junger Mensch eine emotionale Kapazität, die sich ein Ziel sucht, man hat eine Sehnsucht danach, radikale Momente zu leben. Aber man muss sich bewusst werden: Es gibt vielleicht nur ein paar wahrhaft lebenswerte Momente dieser Art, der Rest ist Füllmenge. Doch auch diese Füllmenge ist ja Lebenszeit. Damit muss man umgehen - mit all dem Lapidaren, dem Banalen in seiner Vielgestalt.

ND: Wann empfinden Sie Theater als politisch?

Wenn es mir als Zuschauer die Kompliziertheit eines Konflikts nahe bringt. Als Frau gerät man zum Beispiel schnell in Konfrontation mit anderen, religiös begründeten Rollenverständnissen, etwa solchen, in denen die Frau - nach unserer Einsicht - demütig und reduziert lebt. Das ist eine Wertung von uns, die zwar Würde und Humanität ins Feld führt, letztlich jedoch westliches Denken als einzigen Maßstab setzt. Ich denke aber, es gibt durchaus Argumente gegen unser westliches Zivilisationsverständnis, und wer sagt, dass unsere Ethik nicht eine andere Form von Fundamentalismus ist? Ist es so eindeutig gut, selbstbestimmt zu leben? Ist das wirklich gut für den Menschen? Hat es nicht auch grausige Auswirkungen, sich als seines Glückes Schmied verstehen zu sollen? Man müsste auf dem Theater einen Argumentationsstreit entfachen, der den hohen Grad an Selbstverständlichkeit aufbricht, mit der wir unsere Kultur propagieren. Ich möchte ein Argument so hören, dass ich es bejahe, und dann höre ich das Gegenargument, und wieder stimme ich dem zu. Die Irritation als Erlebnis.

ND: Der Konsens mit dem Zuschauer ist gefährlich?

Ich möchte ertappt werden. Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Egoismus usw. will ich im Theater als etwas begreifen, das mit mir zu tun hat. Theater soll mir das Recht nehmen, mich als den besseren, unantastbaren, nicht verführbaren Menschen zu fühlen.

ND: Ihr Zentrum, sagen Sie, sei das Theater. Ein Gegenentwurf zum »Draußen«?

Ja, aber ich gebe fürs Theater nicht mehr alles auf. Ein halbes Jahr war ich in Nepal, und ab und zu fahre ich für einige Zeit nach Schottland, auf einen Bauernhof: Schafe hüten, Schafe pflegen - es ist die Sehnsucht, etwas Konkretes zu tun, jenseits dieses permanenten Zwangs zu Interpretation und Urteil. Man steckt im Stall oder auf der Weide plötzlich wohltuend in einem anderen Kreislauf. Freilich verstehe ich diesen Ausflug nicht als Flucht oder als wirklich denkbare Alternative. Ich vergesse auch in Schottland nicht, dass ich das, was ich über die Welt denke, unbedingt mitteilen will. Für diesen Willen ist das Theater einfach besser geeignet als eine Hochebene mit Schafen.

ND: Was wäre Ihre Traumästhetik?

Überbordende Phantasie auf entrümpelter Bühne. Das Theater ist für mich eine Art Selbsterschaffung eines Systems, das es mir täglich ermöglicht, ja, so muss ich das sagen: Sinn zu erwirtschaften. Einer meiner Lieblingssätze in »Futur Zwei« war: »Wir sind als Gattung nicht für Freizeit geschaffen. Wir glauben es, aber wir sind es nicht.«

ND: Natürlich wissen Sie, dass dieses Sich-Einspinnen in Ihre Welt fürchterlich an einer anderen, wichtigeren Lebenswahrheit außerhalb des Theaters vorbeigeht.

Nur: Ich find die andere Wahrheit nicht.

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

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Buchtipp: Regisseure im Gespräch: »Hinterm Vorhang das Meer«, Verlag Das Neue Berlin, br., 355 S., 39,90 DM. Foto: A. Lentati
ND: Karin Beier, was meinen Sie, wie weiblich ist das deutsche Stadttheater?

Mich interessiert dieses Problem nicht sonderlich. Wahrscheinlich, weil ich in der Hinsicht nie einen Konflikt gespürt habe. Wie weiblich das Theater ist - die Frage ist für mich nur insofern von Belang, als es um einen anderen Inszenierungsblick auf weibliche Figuren gehen könnte. Vielleicht eine spezielle Aufmerksamkeit, eine andere Gewichtung.

ND: Es gibt in Ihrem Beruf aber eine zweifelhafte Dominanz männlicher Eigenschaften, im Sinne dessen, was Hannah Arendt sagte: »Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt.«

Wer erteilt denn in diesem Beruf, wenn er erfolgreich sein will, Befehle! Ich fühle mich als Regisseurin unter anderem verantwortlich für das Arbeitsklima, und das geht nicht über Befehle.

ND: Die Erotik der Macht ist unweiblich.

Bei der Führung von Menschen wird einem Mann mehr zugetraut, und das sicher auch im ambivalenten Sinne des Wortes: Dem traue ich alles zu. Dass größere Konfliktfreudigkeit und unbedingte Ehrlichkeit beim Austragen eines Konflikts männliche Tugenden seien, das wage ich zu bezweifeln.

ND: Therese Giehse sagte: »Frauen sind häufig viel stärker begabt als Männer, sie sehen besser, haben die frecheren Augen, gucken genauer hin. Aber bei einer Frau als Regisseur arbeiten alle nur mit halbem Einsatz und lächerlich übersteigertem Unwillen. Da muss man schon sehr robust und standhaft sein, um so viel Borniertheit durchzustehen.«

Regisseurinnen wie Andrea Breth oder Elke Lang mussten sicherlich noch anders kämpfen, als wir das heute müssen. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns in ein gemachtes Nest setzen konnten. Ich mag feministische Freudlosigkeit und Militanz überhaupt nicht, aber ich weiß durchaus zu schätzen, dass Feministinnen beim Aufbrechen von gesellschaftlichen Strukturen zum Nutzen der Frauen eine große Arbeit geleistet haben, eine Arbeit, von deren Resultaten wir heute ganz selbstverständlich profitieren. Und was Therese Giehse feststellt: Ich kann bei Schauspielern, mit denen ich arbeite, keinen halben Einsatz entdecken und auch keinen lächerlich übersteigerten Unwillen. Wir sollten wirklich das Thema wechseln.
Das Thema ist: das Stadttheater. Der Dramaturg Thomas Wieck schrieb in »Theater der Zeit«: Wem an Veränderungen am Stadttheater gelegen sei, »der warte auf das endgültige Versiegen des Subventionshahns. Die einmalige Chance, ein modernes Theatersystem in Deutschland zu etablieren, ist 89/90 vertan worden und zwar im Osten, dort, wo mit serviler Eilfertigkeit der Teppich ausgerollt wurde für den Empfang diverser Auslaufmodelle«. Das Denkschema der deutschen Theaterleute, so Wieck, sei davon bestimmt, dass die Kommunen die unaufkündbare Verpflichtung eingegangen seien, das Stadttheatersystem in seiner fortwährenden, unbezweifelbaren Existenz zu sichern. So entwickelten sich beamtene Denkweisen: »Der Bedienstete dient«.
Das jetzt bestehende System wird nicht lange überleben, hoffentlich jedenfalls. Denn bis zu 90 Prozent der Subventionen innerhalb des Betriebes sind nicht bewegbar. Und jener kleine bewegliche Anteil der Subventionen, der den künstlerischen Bereich abdecken soll, wird weiter eingeschränkt. Deshalb steckt das Theater in der Erstarrung. Irgendwann funktioniert der Betrieb zwar noch gut - nur wird halt kein Theater mehr gespielt. Schauen Sie sich in vielen Schauspielhäusern um: Samstags sind sie geschlossen oder im Großen Haus werden überhaupt nur zehn Vorstellungen pro Monat gegeben. Und das, weil die Umbauten von Probe auf Vorstellung nicht mehr geleistet werden können. Das ist grotesk. Wirklich, ich kann nur hoffen, dass das zusammenbricht.

ND: Sie sägen am Ast, auf dem Sie sitzen.

Nein. Mir macht diese Prognose keine Angst. Ich habe lange genug in der freien Szene gearbeitet. Mich hindert nichts, woanders zu spielen. Wenn das Stadttheater einkracht - das Theater überlebt doch auf jeden Fall.

ND: Das Gefühl, wenn man als Zuschauer das erste Mal ein Theatererlebnis hat - wie beschreiben Sie das Ihre?

Vielleicht hat es mit Winter zu tun, mit dem ersten Schnee, denn es war im Winter, als ich das erste Mal ins Theater ging. Ich kam danach raus, es war dunkel, und ich befand mich weiterhin in so einer Art Glocke. Auch im Sommer hatte ich dieses Gefühl und spürte die Glocke. Theater hatte etwas in mir berührt, was ich damals noch nicht genau benennen konnte. Es war aber keineswegs nur etwas Emotionales, es hatte stark mit Irritation und Nachdenken zu tun.

ND: Und Sie beschlossen: Ich muss ans Theater!

Ja - aber als was? Zunächst, natürlich, war da der Traum von der Schauspielerei. In den Sommerferien damals gab es für Schüler Austauschplätze in einer englischen Grafschaft, dort existierte ein Schultheater, im ersten Jahr spielte ich mit, im »Sommernachtstraum«, im zweiten Jahr war ich »schon« Regieassistentin, und so habe ich mich noch vor dem Abitur zu etwas anderem entschlossen, was mit präpotenter Arroganz zu tun hatte: Ich werde Regisseurin! Irrtümlicherweise dachte ich, das ginge nur übers Schauspielstudium, bei der Aufnahmeprüfung bin ich mit Karacho durchgefallen: Ich sei unbegabt. Also bliebe, so meinte ich, nur der Weg über die Wissenschaft. In Köln während des Studiums bin ich dann zu einem Dozenten der Anglistik gegangen und habe gesagt, ich wolle im Englischseminar eine Theatergruppe gründen, die Shakespeare in Originalsprache aufführt. So entstand die freie Gruppe »Countercheck Quarrelsome«. Wir waren wunderbar naiv. Alle Mitarbeiter hatten ein T-Shirt, darauf stand vorn, unter einem Shakespeare-Kopf: »We'll do them all«; leider haben wir nur neun Stücke geschafft. Hinten war zu lesen: »The only serious Choice«.

ND: Shakespeare im Original. Sie sind zweisprachig aufgewachsen. Ihre Mutter ist Engländerin.

Ja.

ND: Rasend schnell, mit zwei Arbeiten, kamen Sie zum Theatertreffen nach Berlin.

Das hat mich schockiert. Ich hatte doch in der freien Szene nicht so viel anders gearbeitet - wieso nun plötzlich diese Beachtung? Nur weil ich irgendwann am Stadttheater war? Bis dahin war auch jede Inszenierung für mich ein Ausnahmezustand gewesen, jetzt gingen die Dinge rasend ineinander über. Dieses Tempo bedrückte mich, und irgendwann wollte ich weg. Der Kokon des Heiligen war zerrissen, und ich hatte erstmalig eine böse Ahnung: Wenn du das jahrelang so betreibst, dann geht irgendwann die Aura des Besonderen verloren. Man rutscht in die Gewöhnung hinein, die tötet alle Lust, etwas anderes als das Bisherige auszuprobieren, und weil man sich selbst am leichtesten betrügt, verwechselt man seine Routine trotzig mit Kunst.

ND: Die Kritik schrieb von Spektakel, verblüffendem Jahrmarktstheater, drastischer Komik, körperlicher Sprachmelodie, großem Lustgewinn an klassischer Textur. »Theater heute« bezeichnete Sie als »Shakespeare-Prophetin von europäischem Format«.

Erst sehr langsam habe ich Selbstbewusstsein gewonnen; diese erste Zeit, in der ich das Gefühl von Fremdbestimmung hatte, wollte ich nie wieder erleben. Man versucht dann ja, im Drachenblut zu baden, man möchte am liebsten sehr unempfindlich werden.

ND: Ist das eine Warnung an junge Leute?

Ach, Warnung ... Ich maße mir das nicht an. Da muss jeder seine Erfahrung machen. Nur geht eben die Tendenz dahin, dass schon ein Rudiment an Talent ausreicht, um an großen Häusern engagiert zu werden. Und: Je jünger, desto besser. Geschieht alles nur auffällig und absonderlich genug, freut sich das Feuilleton.

ND: Karin Beier, im Jahre 1999 inszenierten Sie am Deutschen Schauspielhaus Hamburg »Futur Zwei«, Untertitel: »Fragmente - Seelenauswürfe - Blutgerinnsel des 20. Jahrhunderts«. Es war kein Stück, sondern ein Projekt. Es war der Versuch, mit unkonventioneller Spielenergie Gegenwart aufs Theater zu holen.

Uns interessierte: Wie lässt sich das Bild jener Generation der Endzwanziger und Anfangsdreißiger erfassen, die als Generation der prononcierten Ziellosigkeit gilt? Es ist eine Generation, der fehlende Identität zu einem Vorwurf gemacht wird. Aber diese Generation X hat genau diese fehlende Verwurzelung, diese Aufkündigung fremder Zusammenhänge zu ihrer eigentlichen Identität erklärt. Diese jungen Leute mögen nach dem Urteil der Älteren träge, unzufrieden, rauschhaft unzuverlässig und sprunghaft sein, nur tun sie uns nicht den Gefallen, das betrüblich und verwerflich zu finden. Sie haben nicht das negative Lebensgefühl, das ihnen Ältere, aus dem Blickwinkel einer anderen Moral, so gern und vorwurfsvoll nachsagen. Sie wollen nicht Strukturen festsetzen, sondern Strukturen auflösen.

ND: Nun kann die Lockerheit von Lebens- und Äußerungsformen ja durchaus kritisch als Verlust von Konzentration und Wesentlichkeit gewertet werden.

Diese jungen Leute sehen darin einen Gewinn, sie entwickeln eine ganz selbstverständliche Ironie. Natürlich müsste es schön sein, etwas außerhalb seiner selbst zu haben, an das man glauben kann, etwas Absolutes. Ist aber nicht. Keine Ikone, kein Gott, keine Ideologie, keine Familienbande - statt dessen haben sich diese jungen Menschen, mehr aus Versehen eigentlich, dafür entschieden, das Leben als Spiel zu begreifen ...

ND: Wie sind Sie selber mit dem Thema »Achtundsechzig« umgegangen, unter dem Aspekt einer Generation, die im Vergleich dazu gemäßigt aufwuchs?

Mit zwanzig habe ich mich sehr mit der RAF auseinandergesetzt, habe sehr viele Bücher darüber gelesen. Ich erinnere mich an ein Gefühl von Neid. Alle Energie dieser Menschen damals hatte einen Kanal, in dem sie langfegen konnte, auf ein Ziel zu, das gut schien, an das keine Zweifel geknüpft waren, das die Welt in Gut und Böse teilte. Dieses fast noch kindliche Verlustempfinden über ein gesellschaftliches Ziel habe ich natürlich längst nicht mehr. Ich bin relativ glücklich. Aber ich denke, ich bin keine typische Vertreterin meiner Generation. Relativ früh hatte ich meinen Elfenbeinturm. Theater ist der zentrale Inhalt, der mich den Leuten verbindet, die mich umgeben - ich fühle mich aufgehoben und abgefedert.

ND: Wie kann Glück gelingen im allseits Gemäßigten?

Man hat als junger Mensch eine emotionale Kapazität, die sich ein Ziel sucht, man hat eine Sehnsucht danach, radikale Momente zu leben. Aber man muss sich bewusst werden: Es gibt vielleicht nur ein paar wahrhaft lebenswerte Momente dieser Art, der Rest ist Füllmenge. Doch auch diese Füllmenge ist ja Lebenszeit. Damit muss man umgehen - mit all dem Lapidaren, dem Banalen in seiner Vielgestalt.

ND: Wann empfinden Sie Theater als politisch?

Wenn es mir als Zuschauer die Kompliziertheit eines Konflikts nahe bringt. Als Frau gerät man zum Beispiel schnell in Konfrontation mit anderen, religiös begründeten Rollenverständnissen, etwa solchen, in denen die Frau - nach unserer Einsicht - demütig und reduziert lebt. Das ist eine Wertung von uns, die zwar Würde und Humanität ins Feld führt, letztlich jedoch westliches Denken als einzigen Maßstab setzt. Ich denke aber, es gibt durchaus Argumente gegen unser westliches Zivilisationsverständnis, und wer sagt, dass unsere Ethik nicht eine andere Form von Fundamentalismus ist? Ist es so eindeutig gut, selbstbestimmt zu leben? Ist das wirklich gut für den Menschen? Hat es nicht auch grausige Auswirkungen, sich als seines Glückes Schmied verstehen zu sollen? Man müsste auf dem Theater einen Argumentationsstreit entfachen, der den hohen Grad an Selbstverständlichkeit aufbricht, mit der wir unsere Kultur propagieren. Ich möchte ein Argument so hören, dass ich es bejahe, und dann höre ich das Gegenargument, und wieder stimme ich dem zu. Die Irritation als Erlebnis.

ND: Der Konsens mit dem Zuschauer ist gefährlich?

Ich möchte ertappt werden. Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Egoismus usw. will ich im Theater als etwas begreifen, das mit mir zu tun hat. Theater soll mir das Recht nehmen, mich als den besseren, unantastbaren, nicht verführbaren Menschen zu fühlen.

ND: Ihr Zentrum, sagen Sie, sei das Theater. Ein Gegenentwurf zum »Draußen«?

Ja, aber ich gebe fürs Theater nicht mehr alles auf. Ein halbes Jahr war ich in Nepal, und ab und zu fahre ich für einige Zeit nach Schottland, auf einen Bauernhof: Schafe hüten, Schafe pflegen - es ist die Sehnsucht, etwas Konkretes zu tun, jenseits dieses permanenten Zwangs zu Interpretation und Urteil. Man steckt im Stall oder auf der Weide plötzlich wohltuend in einem anderen Kreislauf. Freilich verstehe ich diesen Ausflug nicht als Flucht oder als wirklich denkbare Alternative. Ich vergesse auch in Schottland nicht, dass ich das, was ich über die Welt denke, unbedingt mitteilen will. Für diesen Willen ist das Theater einfach besser geeignet als eine Hochebene mit Schafen.

ND: Was wäre Ihre Traumästhetik?

Überbordende Phantasie auf entrümpelter Bühne. Das Theater ist für mich eine Art Selbsterschaffung eines Systems, das es mir täglich ermöglicht, ja, so muss ich das sagen: Sinn zu erwirtschaften. Einer meiner Lieblingssätze in »Futur Zwei« war: »Wir sind als Gattung nicht für Freizeit geschaffen. Wir glauben es, aber wir sind es nicht.«

ND: Natürlich wissen Sie, dass dieses Sich-Einspinnen in Ihre Welt fürchterlich an einer anderen, wichtigeren Lebenswahrheit außerhalb des Theaters vorbeigeht.

Nur: Ich find die andere Wahrheit nicht.

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

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Buchtipp: Regisseure im Gespräch: »Hinterm Vorhang das Meer«, Verlag Das Neue Berlin, br., 355 S., 39,90 DM. Foto: A. Lentati

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