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Tango - ein argentinisches Phänomen?
Schwierig waren die letzten vier Jahre für Argentinien. Worte wie Abwertung, steigender Dollarkurs, Streiks, Tränengas, berittene Polizei, ja sogar Straßenbarrikaden waren die am häufigsten gebrauchten. Und dennoch: Der Tango ist immer noch das, was man als erstes mit Argentinien verbindet. Die Zahl seiner Anhänger wird dabei auch in Deutschland immer größer.
»Tango ist ein Gedanke, den man tanzt« - treffender als Enrique Santos Discépolo, einer seiner größten Schöpfer, kann man den Tango wohl kaum beschreiben. »Und gerade der Tanz ist es, der wohl das essentiellste Element des Tango darstellt und für seine Popularität in der ganzen Welt verantwortlich ist«, meint der berühmte argentinische Schriftsteller Ernesto Sabato in seinem Vorwort zum Buch »Der Tango« von Horacio Salas. Trotz Wirtschaftskrise boomt die argentinische Tangoindustrie. Jedes Jahr kommt eine wachsende Anzahl von Tangotouristen ins »Mekka des Tango«, auf der Suche nach dem Ursprung dieses Tanzes. Denn laut Experten wird nur in Buenos Aires der "wahre" Tango getanzt. Noch vor zehn Jahren schien es, als ob der Tango keine allzu große Rolle mehr im Leben eines Durchschnittsargentiniers spielte. In den 50er Jahren wurde der Tango überall getanzt. Man lernte ihn "auf der Straße" oder in der Familie, mit Freunden. Dann wandte sich das Interesse der Bevölkerung dem Rockn' roll, den Beatles zu. Die Tangokultur hat sich über die Diktaturperiode hinaus nur in einigen Vierteln von Buenos Aires und hauptsächlich unter der älteren Bevölkerung am Leben erhalten. Heutzutage erlebt der Tango sein Comeback - und wird auf jede vorstellbare (und unvorstellbare) Art und Weise vermarktet. So gibt es einen bestimmten Teil der jüngeren Generation, der den Tango als Einkommensquelle nutzt. Das Erlernen des Tangos und die damit verbundene Möglichkeit, als Lehrer oder Tänzer auftreten zu könne, erlaubt jungen Argentiniern, ein akzeptables Gehalt zu verdienen und vielleicht sogar zu reisen. Manch einer lernt eifrig Tango, weil er sich wegen der steigenden Nachfrage im Ausland eine Einladung erhofft, wie z. B. der 20-jährige Bruno: »Ich wollte schon immer die Welt kennen lernen, und vielleicht kann ich diese Träume mit Hilfe des Tangos verwirklichen.« Die Tangoindustrie hat sich im letzten Jahrzehnt merklich entwickelt: »Vor 14 Jahren tanzten hauptsächlich alte Leute Tango, nun jedoch gibt es auch viele junge Tänzer. Und die Anzahl der Milongas (Tanzveranstaltungen), die man besuchen kann, hat sich vervielfacht«, stellt Jaap van der Lee, ein Tangotourist aus den Niederlanden fest. Das allgemeine Interesse wurde natürlich auch durch die international sehr erfolgreichen Filme, wie z. B. »The Tango Lesson« von Sally Potter, Carlos Sauras »Tango« und den Tango tanzenden Al Pacino in »Scent of a Woman« enorm verstärkt. Nach den Ereignissen des 11. September schien es, als habe die Reiselust auf der ganzen Welt abgenommen. Auch die Meldungen über Streiks, Supermarktplünderungen, die politische Ungewissheit schlechthin trugen zusätzlich dazu bei, die Lust zu schmälern, in den Wintermonaten nach Buenos Aires zu fliegen. Doch seit der argentinische Peso nicht mehr 1:1 zum Dollar steht, kommen nun um so mehr Touristen nach Buenos Aires, und darunter auch Tangotouristen, denn momentan kostet alles nur noch ein Drittel für sie. »Gerade jetzt kommt der so genannte Tangotourismus in Deutschland in Mode«, berichtet Argentiniens Kulturattaché in Deutschland Maximiliano Gregorio-Cernadas. Jedoch sind die Argentinier selbst auf der Suche nach dem Stellenwert des Tango in ihrem Leben: Gerade mal ein Prozent der Einwohner der Stadt Buenos Aires widmet sich dem Tango, und ein Großteil der Bevölkerung hat kein unmittelbares Interesse an diesem Tanz. Die jüngere Generation Argentiniens bevorzugt angesagte Clubs und Discotheken mit dröhnender Techno-, Rock- und Popmusik. Dennoch ist Tango ein wirksames Mittel ihrer Identität, seit Maradona kein großes Vorbild mehr ist, das argentinische Rindfleisch weniger Absatz findet. Fabiana, eine Informatikerin, erklärt: »Wir alle haben einen Tango in uns, das heißt, wir sind nie mit dem zufrieden, was wir besitzen, und wir lieben es, uns zu beklagen. Tango ist für mich persönlich nicht wichtig, er existiert als Teil meiner Erinnerung an meine Großeltern. Ich kann mich immer noch an deren Tanzen erinnern, aber wenn ich sehe, wie heute der Tango getanzt wird, ist es kein echter Tango mehr. Für mich ist es ganz und gar kein Tango. Es ist Export-Tango.« Viele Argentinier mögen es gar nicht, dass sich das Interesse von außerhalb nur auf den Tango begrenzt: »Argentinien ist ein sehr vielseitiges Land, und niemand weiß davon. Ausländer denken an Tango, Fußball und Fleisch, wenn von Argentinien die Rede ist. Jedoch darüber hinaus weiß man nicht viel«, erzählt Laura, eine Produktmanagerin. Jedoch zweifelt Laura die Bedeutung des Tangos nicht an: »Einen Touristen würde ich auch als Erstes in eine Tangoshow führen.« Auch manch argentinischer Künstler hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Tango. Mauricio Weinrot, künstlerischer Leiter des Tanzensembles des Theaters San Martin, sieht die Rückkehr des Tangos als eine Chance Argentiniens, obwohl er dem Tanz selbst keineswegs positiv geneigt ist: »Tango ist eine notwendige Epidemie. Er gibt vielen Argentiniern zu essen. Als Tanz reizt er mich recht wenig. Die Musik gefällt mir sehr. Von den Sängern jedoch gefällt mir kein einziger. Der Tango reflektiert ein Persönlichkeitsbild von Buenos Aires, welches heutzutage nicht mehr existiert. Und die Kleidung, die man dazu trägt, ist so hässlich, die Röcke der Frauen mit den langen Schlitzen lassen sie wie Prostituierte aussehen. Ich hasse Klischees. Für mich stellt der Tango keine Kunst dar.« Jedoch gibt Weinrot zu, dass der Tango Argentinien zu einer Identität verhilft. Argentinien sei ein Land mit sehr wenigen symbolischen Merkmalen, insofern sei es sehr schön, behauptet Weinrot, dass die Ausländer Tango auf diese Weise identifizieren könnten. »Es ist nicht die Schuld des Tangos, dass es Klischees gibt«, sagt er, »genauso wenig, wie der klassische Tanz daran schuld ist, dass es viele schlechte Tänzer gibt, die ihn tanzen wollen.« In Deutschland ist die Anziehungskraft des Tangos groß. »Tango entstand ja aus einer Mischung von Kulturen in Argentinien, und hier in Berlin ist die Mischung der Kulturen auch sehr stark. Tango ist wahrscheinlich der europäischste Tanz Lateinamerikas, und deshalb so populär hier«, bemerkt Maximiliano Gregorio-Cernadas. Jeden Abend finden in Berlin fünf bis sieben Milongas statt. Es gibt unzählige Shows, Ausstellungen, Kurse, Bücher über den Tango. »Für mich besteht nicht einmal die Notwendigkeit nach Argentinien zu fahren« sagt Max, ein Tangotänzer aus Berlin. Der Tango ist ein Tanz, der einen langen Entwicklungsweg zurückgelegt hat, auf der einen Seite durch seine eigene Geschichte, andererseits durch die vielen Tanzstile, die sich auf der ganzen Welt durch die kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Nationalitäten, die ihn tanzen, entwickelt haben. »Viele Argentinier mögen nicht, wie Tango in Europa getanzt wird. Es gibt einen so genannten "offenen" Stil, der vom modernen Tanz beeinflusst wurde«, erklärt Gaia, eine Tänzerin aus Rom, die heute in Berlin Tango unterrichtet. Auf der einen Seite wird der Tango durch diesen Einfluss bereichert, doch andererseits gehen dadurch die Tradition, die Kultur, die Menschlichkeit, die Argentinien verbreitet, verloren, meint sie. Horacio Salas beschreibt die Haltung der älteren Generation Argentiniens zum Tanzstil der jüngeren Generation sehr treffend: »Wenn heute irgendein Tango-Veteran bestimmte, mit sich selbst beschäftigte Paare beobachtet, die dabei sind, Schritte "abzuzählen" und Figuren zu exerzieren, mag man ihn oft mit einer gewissen sympathischen Geringschätzung angesichts der einstudierten Strenge einiger junger Leute lächeln sehen, die den Bemerkungen des Lehrers mehr Aufmerksamkeit schenken als den puren Impulsen des Rhythmus.« »Die Musik ist motivierend und beklemmend, der Tanz ist die Vereinigung zweier Personen, die hilflos der Welt gegenüberstehen und jeglicher Hoffnung, die Dinge in der Welt zu verändern, beraubt sind«, sagte der legendäre Tangotänzer und -choreograf Juan Carlos Copes. Vielleicht ist es dieses Gefühl der Machtlosigkeit, die Dinge zu verändern, womit sich die Argentinier, vor allem die Porteños (Einwohner von Buenos Aires) identifizieren, besonders zu einem Zeitpunkt, wo die Mehrheit von Politikern enttäuscht wurde, jedoch die Erinnerungen an die Diktaturperiode noch frisch sind. »Für die ältere Generation bedeutet der Tango eine Erinnerung an bessere Zeiten, an die goldene Vergangenheit Argentiniens, es war eines der reichsten Länder der Welt, allen ging es gut, alle Leute wollten hierherkommen und an dem Kuchen teilhaben. Also, für die ältere Generation ist es das Trauern um die eigene Jugend und die besseren Zeiten Argentiniens«, sagte der deutsche Tangotänzer Norbert Staab, der zwei Jahre in Buenos Aires lebte, den Tango studierte und nun in Frankfurt lebt und tanzt. Man kann feststellen, dass die Wirtschaftskrise in gewisser Weise einen positiven Wandel in der Bevölkerung, eine Wiederkehr zur nationalen Kultur bewirkt hat. Es ist schwieriger für die Argentinier geworden, das Land zu verlassen oder Leute aus dem Ausland zu bestellen. Auf der einen Seite existiert das Bestreben, das Land zu verlassen, um mehr Geld zu verdienen, und auf der anderen, im eigenen Land zur eigenen Identität zurückzufinden. Und dazu gehört auch der Tango. Der Tango hat schon seit über hundert Jahren gute und schlechte Zeiten in Buenos Aires miterlebt, und er wird auch in diesen schwierigen Zeiten überleben. Denn Buenos Aires ist eine Stadt, die zwar vieler Hoffnungen beraubt wurde, die aber dennoch als eine Stadt von großer Ausstrahlung erh...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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