Systematisch gegen Schulpflicht

Dutzende Flüchtlingskinder wurden von Schulen abgewiesen / Senat verspricht zusätzliche Lehrer

  • Sonja Vogel
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit ihrem Schulrecht nimmt es der Senat nicht so genau: Flüchtlingskinder in Berlin.
Mit ihrem Schulrecht nimmt es der Senat nicht so genau: Flüchtlingskinder in Berlin.

In Berlin wird zahlreichen Flüchtlingskindern das Schulrecht verwehrt. Kinder und Jugendliche mehrerer Sammelunterkünfte warten zum Teil seit Monaten auf einen Platz – oder werden sogar abgelehnt. In einer Antwort der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen heißt es, die Schulen begründeten die Ablehnungen mit einem »Mangel an Schulplätzen und knappen Ressourcen für Förderklassen«.

Bildungsstaatssekretärin Claudia Zinke (SPD) kündigte nun an, zusätzliche Lehrer für Flüchtlingskinder einzustellen. Wie viele es sein werden und wann mit ihnen zu rechnen ist, blieb indes offen. »In bestimmten Bedarfslagen, wenn Kinder tatsächlich über keinerlei Deutschkenntnisse verfügen, können temporäre Lerngruppen eingeführt werden«, schränkte die Sprecherin des Bildungssenators, Beate Stoffers, auf Nachfrage ein. Derzeit ermittele die Schulaufsicht die Zahl der Kinder, »um die Planung für zusätzliches Lehrpersonal durchzuführen«. In Neukölln weiß die Senatsverwaltung allein von 500 aus Rumänien und Bulgarien stammenden Kindern mit unzureichenden Deutschkenntnissen. 330 von ihnen seien bislang noch nicht bei der Errechnung benötigter Lehrkräfte berücksichtigt.

»Ich weise seit langem darauf hin, dass wir zusätzliche Lehrer brauchen«, sagte die Schulstadträtin von Steglitz-Zehlendorf, Anke Otto (Grüne). Bisher besuchen in ihrem Bezirk 18 von 20 Kindern der nahe gelegenen Flüchtlingsunterkunft keine Schule. Nun sollen zwei zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden. »Das bedeutet für uns eine deutliche Erleichterung«, so die Schulstadträtin. Ob zwei Lehrer mehr auf Dauer ausreichen werden? Das sei nicht vorhersehbar, sagte Otto, denn mal kämen mehr, mal weniger Flüchtlinge. »Im Moment geht die Zahl allerdings rauf.«

Der Berliner Flüchtlingsrat wirft nun Bezirken und Senat vor, systematisch gegen die Schulpflicht zu verstoßen. Die Organisation schätzt, dass bis zu 300 Kinder aus Erstaufnahmeeinrichtungen keine Schule besuchen. Die Beispiele die der Flüchtlingsrat gesammelt hat, zeigen, wie wenig sich die zuständigen Behörden um die Einhaltung der Schulpflicht kümmern. So werden in einer Sammelunterkunft im Süden Berlins Kinder im Grundschulalter in der Unterkunft unterrichtet, weil die zuständigen Schulen keine Plätze bereitstellen; 22 Kinder im Sekundarschulalter dürfen überhaupt nicht zur Schule gehen. Auch in Berlin-Spandau erhalten Dutzende Kinder einer Asylunterkunft keinen Schulplatz. In Tempelhof-Schöneberg hatte das Schulamt nach Informationen des Flüchtlingsrates sogar abgelehnt, die Anmeldung 16-Jähriger entgegenzunehmen. Begründung: sie seien nur noch bis zum Ende des Schuljahres schulpflichtig.

»Viele Schulleitungen haben noch nicht verstanden, dass Flüchtlingskinder die selben Rechte haben«, kritisiert Walid Chahrour vom Flüchtlingsrat Berlin. Für die betroffenen Kinder ist die Situation dramatisch. Oft leben sie räumlich isoliert in Unterkünften am Stadtrand. »Der Schulbesuch ist für die Eingewöhnung der Kinder in ihr neues Umfeld und für ihre psychische Stabilisierung nach den Erfahrungen der Flucht außerordentlich wichtig«, sagt Chahrour. »Nicht die Schule besuchen zu dürfen, das bedeutet, nicht in Deutschland und in Berlin ankommen zu können. Es bedeutet Ausgrenzung.« Dass der Senat nun neue Lehrer einstellen will, begrüßt Walid Chahrour – nun müssten dringend Rahmenbedingungen zur Einrichtung von Förderklassen erstellt werden.

Bereits im Januar war bekannt geworden, dass Neuköllner Schulen Flüchtlingskindern den Schulbesuch verweigert hatten. Innensenator Ehrhart Körting (SPD) sprach sich damals gegen die Schulpflicht ausländischer Kinder aus, deren Eltern nicht gemeldet sind. Eine Anmeldebescheinigung ist für den Schulbesuch indes irrelevant. Alle Kinder haben ein Recht darauf, die Schule zu besuchen – auch ohne sicheren Aufenthaltsstatus oder Wohnsitz. So steht es im Berliner Schulgesetz.

Derzeit leben um die 10 000 Flüchtlinge in Berlin. Seit Monaten steigt die Zahl der Neuankömmlinge an – allein im letzten Jahr waren es 2000.

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